Um Alte Musik lebendig werden zu lassen will, braucht es beides: Quellenstudium und Inspiration. Große Künstler zu Gast beim Festival

Es bleibt ein Wortungetüm: historische Aufführungspraxis. Oder, schlimmer, länger, korrekter noch: historisch informierte Aufführungspraxis. Das schreckt ab, klingt es doch, als müsste man erst einmal seine Hörbefähigung schriftlich nachweisen, um sich der Musik überlassen zu dürfen.

Dabei will die Originalklangbewegung, wie man sie zungenschonend auch nennen kann, genau das Gegenteil: Sie will das Gegenwärtige, das Lebendige an der Musik freilegen. Klar, dass dafür mancher Spatenstich in alten Bibliotheken notwendig ist (und alte Folianten zu beschnuppern und zu wälzen ist ja schon ein sinnliches Erlebnis): Was sind die geistesgeschichtlichen Hintergründe? Wie lebten die Menschen damals mit der Musik? Welche Aufgaben hatte Musik? Welche Botschaften transportierte sie?

Was man indes aus solchen Erkenntnissen macht, ist eine zweite Frage. Kein seriöser Musiker würde heute noch ernstlich behaupten, dass man eine Figur bei Bach oder ein Sforzato bei Beethoven nur genau so und kein bisschen anders spielen dürfe. Unterschiede in Phrasierung, Klanggebung und künstlerischem Temperament sind das Salz im reichen Angebot an Spezialensembles. Und anders als zur von ideologischen Grabenkämpfen geprägten Frühzeit besteht heute, da die Originalklangbewegung in den bürgerlichen Konzertsälen angekommen ist, weithin Einverständnis darüber, dass es in erster Linie darum geht, die Musik für heutige Ohren verständlich zu machen.

Die hochkarätigen Künstler aus der Alte-Musik-Szene, die dieses Jahr beim Schleswig-Holstein Musik Festival zu Gast sind, sind denn auch sämtlich keine Dogmatiker, sondern gewissermaßen Innovationsspezialisten. So sind der Belgier Joos van Immerseel und sein Ensemble Anima Eterna schon lange bei Rimski-Korsakow und Ravel angekommen - mit Darmsaiten und Blasinstrumenten aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, die oft erstaunlich viel weicher klingen als heutige. Zum Festival kommen Immerseel und Anima Eterna (6.8. Kiel, 7.8. Lübeck) aber mit einem reinen Händel-Programm vom Allerfeinsten: Die Arien und Duette aus Opern wie "Rinaldo" und "Ariodante" singen niemand Geringeres als die Sopranistin Roberta Invernizzi und der Countertenor Philippe Jaroussky.

Jaroussky ist mittlerweile zum Weltstar aufgestiegen, während Invernizzis Name vor allem Barockfreaks in den Ohren klingt. Aber in der Intensität des musikalischen Ausdrucks, im kunstvollen und zugleich verblüffend natürlich wirkenden Gestalten noch der kleinsten Wendungen stehen sie einander nicht nach.

Zwischen den Galanummern werden, wie zu Händels Zeiten üblich, instrumentale Solokonzerte eingeschoben. Der Maestro nutzte selbst in seinen erfolgsverwöhnten Londoner Zeiten die Zwischenspiele, die man damals in die Opernaufführungen einbaute, um sich auch noch als Orgelvirtuose zu präsentieren und gleich doppelten Jubel einzuheimsen.

Eine der faszinierendsten Thesen des großen Aufführungspraktikers Nikolaus Harnoncourt ist die, dass bestimmte instrumentale Tonfolgen für die Hörer der Barockzeit als rhetorische Redewendungen mit außermusikalischem Inhalt unmittelbar zu verstehen waren. So gilt der Kopfsatz von Johann Sebastian Bachs Fünftem Brandenburgischen Konzert mit seiner Klangpracht in D-Dur als Huldigung für Bachs damaligen Fürsten Leopold von Köthen, der Bach sechs Jahre lang üppig ausstattete und ihm künstlerisch alle Freiheiten gewährte.

John Eliot Gardiner und seine English Baroque Soloists führen an zwei Abenden alle sechs Brandenburgischen Konzerte auf (10.8. Lübeck, 11.8. Rendsburg). Eine wunderbare Gelegenheit, die Faktur dieses so eigenwillig wie genial konzipierten Zyklus mit den Sinnen zu erfahren. Hat Bach doch mit ihm bewiesen, wie souverän er musikalische Formen beherrschte.

Während, eine frühe Form der Globalisierung, in ganz Europa Orchesterbesetzungen vereinheitlicht wurden, ging Bach den umgekehrten Weg: Keins der Konzerte gleicht in Besetzung und Duktus dem anderen; für jedes nahm er sich mit geradezu naturwissenschaftlicher Akribie eine andere musikalische Gattung, einen anderen Stil vor - mit Vorliebe aus Italien, dem Land, aus dem die damals aktuellen Strömungen kamen - und machte etwas ganz Eigenes daraus.

Zu den Konzerten singt die junge Niederländerin Lenneke Ruiten zwei ebenso berühmte Kantaten Bachs, echte Sopran-Renommierstücke alle beide: "Jauchzet Gott in allen Landen" und die Hochzeitskantate "Weichet nur, betrübte Schatten".

Christopher Hogwood wiederum, Gründer und langjähriger Leiter der legendären englischen Academy of Ancient Music, betätigt sich gleich doppelt als Grenzgänger: Er bringt seinen reichen Erfahrungsschatz ein, wenn er groß besetzte romantische Werke mit dem Schleswig-Holstein Festival Chor und Orchester erarbeitet - mit zwei Ensembles, die sich erst diesen Sommer zusammenfinden, die es also erst noch zu formen gilt und die ganz bestimmt nicht mit Instrumenten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dasitzen. Dafür aber mit jungen und begeisterungsfähigen Ohren für das, was ihnen Hogwood an Tonsprache, dynamischer Variabilität und Klangfarben nahebringen wird.

Felix Mendelssohn Bartholdys Reformationssinfonie und Robert Schumanns selten gespieltes Spätwerk Missa sacra in c-Moll sind, jedes auf seine sehr eigene Weise, von tiefer Religiosität durchdrungen; nicht umsonst ist das Programm "Bekenntnisse" überschrieben (31.7. Rendsburg, 1.8. Lübeck). Den Solopart übernimmt die hoch gelobte englische Sopranistin Sally Matthews.