Meine Familie kommt aus Rostock in Mecklenburg. Eigentlich ging es ihnen zu DDR-Zeiten gut. Warum sollten sie also flüchten? Aus den gleichen Gründen wie die meisten Flüchtlinge damals: keine Chance zur beruflichen Entwicklung, wenn man nicht in die Partei eintreten wollte, und keine Reise- und Meinungsfreiheit.

In den letzten Jahren vor der Wende spitzte sich ihre Lage zu. Mein Vater wollte sich weiterbilden. Er hatte Feinmechaniker gelernt und studierte an der Universität Schiffbau. Doch seine ihm nach dem Studium zugeteilte Arbeit langweilte ihn und zeigte meinem Vater die aussichtslose Lage der DDR. Er fand keine Arbeit.

Mehrere Freunde meiner Eltern waren verhaftet worden, weil sie entweder flüchten wollten oder einfach zu offen ihre Meinung gesagt hatten. Ein paar waren aber auch schon geflohen und hatten es geschafft.

Doch der letzte Anstoß war, dass mein Vater und meine Mutter zusammenziehen wollten und keine Wohnung bekamen. Und so flüchteten sie mit mehreren Freunden.

Alles war präzise geplant. Zuerst verkauften sie ihre Sachen, um Geld für die Flucht zu bekommen. Danach wurde der genaue Verlauf der Flucht geplant. Dies geschah bei einem geheimen Treffen mit den sechs anderen Leuten. Der wichtigste Einschnitt war, Abschied von ihren Eltern zu nehmen, ohne dass diese merkten, dass es ein Abschied für längere Zeit sein würde. Denn diese dachten, dass meine Eltern nur einen Kurzurlaub machen würden.

Sie nahmen nur alte Kleidungsstücke mit, da sie diese später zurücklassen wollten. Frühmorgens im September traf sich die kleine Gruppe mit drei Autos, um von Rostock in Richtung der früheren Tschechoslowakei zu fahren. Sie passierten Ost-Berlin, Dresden und Decin. Um schließlich spätabends in der Nähe des Ortes Ústí nad Labem auf einem Zeltplatz zu übernachten. Ihre Reise setzten sie in der Slowakei durch die Orte Trnava und Nitra fort. Schließlich endete die Fahrt in Cana, auf einem weiterem Zeltplatz, der direkt an der Grenze zu Ungarn lag. Dort ließen sie ihre Autos zurück.

Ab diesem Zeitpunkt wurde es gefährlich. Spätabends wurden die Zelte aufgebaut, um den Schein der Anwesenheit zu wahren. Zwei Männer wurden losgeschickt, um auszukundschaften, wie die slowakischen Grenzposten postiert waren und an welcher Stelle es möglich sein würde, über die Grenze zu kommen. Am nächsten Abend, dem 10. September 1989, täuschte die Gruppe einen Kinobesuch vor. Sie ging in Pärchen aufgeteilt, um nicht zu große Aufmerksamkeit zu erregen. Sie trafen sich alle am Ortseingang hinter einer Brücke wieder, um sich unbemerkt ins Dickicht schlagen zu können. Sie wussten, dass der Zeltplatzbesitzer in diesem Moment bei seinem Kontrollgang wahrscheinlich schon längst ihr Verschwinden bemerkt und gemeldet hatte. Sie liefen durch Maisfelder, über Äcker und durch den Wald.

Hier schreckten sie Hunde eines Dorfes auf. Vor Angst blieben sie im hohen Gras liegen und warteten ab.

Sie liefen über die "grüne Grenze" nach Ungarn. Im Morgengrauen hatten sie ersten Kontakt zu ungarischen Soldaten. Eine Dolmetscherin erzählte ihnen von der Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich. Nach einer Nacht in einer ungarischen Kaserne konnten sie Kontakt mit ihren Freunden aufnehmen, mit denen sie sich in Ungarn verabredet hatten. Sie wollten wieder in den Norden Deutschlands. Mit Bussen und Bahnen kamen sie mit vielen anderen Flüchtlingen über Budapest, Linz, und Göttingen schließlich nach Hamburg-Altona.

Mit ein paar der Freunde, die damals mit ihnen geflüchtet sind, besteht immer noch eine Freundschaft. Doch nicht mit allen. Durch die Stasiakten erfuhren meine Eltern von einem IM aus ihrem engsten Freundeskreis. Er war ein Mitflüchtling.

Ich bin stolz auf meine Eltern, dass sie den Mut hatten, zu flüchten. Und dass sie für ihre eigene Zukunft gekämpft haben.

Jule Pischel, 11b

Julius-Leber- Schule