Zu den gefährdeten, zu den noch nicht ausgestorbenen Wörtern zählt die Demut ebenso wie Anmut. Aus der Wirklichkeit verschwinden sie, ehe sie aus der Sprache verschwinden. Zum Bedeutungshof der Demut gehören einerseits Demut & Unterwürfigkeit (lat. humilitas) und andererseits Bescheidenheit & Besonnenheit (lat. modestia). Demut braucht Freimut. Sonst gerät sie zur Unterwerfung; Freimut braucht Demut, um nicht im Übermut zu enden.

Demut als Lebenshaltung bewahrt vor der Hybris babylonischer Türme und prometheischer Allmachtsfantasien. Der Demutsvolle respektiert Endlichkeit - seine eigene! -, nicht nur das Ende aller Dinge. Demut - das ist zuerst die Bescheidenheit dessen, der weiß, dass er gehen muss, der geerdet bleibt, eben weil er dessen inne geblieben ist, dass er aus Erde kommt und zu Erde wird. "Groß ist der Tod/und wir sind die Seinen/lachenden Munds" (Rainer Maria Rilke). Das Glück des Augenlichts im Augenblick genießen.

Demütig wird, wer vor der Erhabenheit des Lebens und vor dem Geheimnis des Todes nicht bloß erschaudert, sondern beglückt wird. Ewiges Glück wäre kein Glück mehr. "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", schärft Psalm 90 ein. Der große Skeptiker der Bibel redet unmissverständlich: "Es gehet den Menschen wie dem Vieh - so wie es stirbt, so stirbt auch er." Und da gibt es nichts Besseres, als sich gütlich zu tun und "fröhlich zu sein bei seiner Arbeit". Alles wirklich Große macht demütig - jedenfalls den, der um Größe weiß und sich nicht für den Größten hält.

Demut, das ist eben der Mut, das Vergängliche und Vorübergehende ehrfurchtsvoll zu respektieren, ja als ein Glück zu erfahren: den bewusst wahrgenommenen Aufgang der Sonne "bis zu ihrem Niedergang", das rosige Gesicht, den ersten Schrei des Neugeborenen, den Kuss und das Einswerden, die Gütigkeit und das Stille gebietende, Stille verströmende faltendurchfurchte Antlitz der toten Großmutter, den Kristall unter dem Mikroskop, den auftauchenden Pottwal, die bachsche Motette "Fürchtet euch nicht", die Pietà von Michelangelo, die zum Boden geneigte Schwere der Ähre wie die sich der Sonne zuwendende Sonnenblume, den über die Tasten seines Klaviers gebückten Glenn Gould, die ihre Gedichte lesende Nelly Sachs. Brandt kniet in Warschau nieder, Havel wird Präsident, Mandela reicht de Klerk die Hand ... Es sind die großen Momente, die in die Zeitstrecke hinein weiterwirken.

Jesus, auf einem Hügel über dem See Genezareth sitzend, blickt andern in die Augen und schaut in die Ferne. "Selig sind die Barmherzigen, die Arglosen, die Friedfertigen, die Sanftmütigen." Gerade der Erhöhte erweist Demut als einen Dienmut bei der Suche nach dem Wohl des anderen, das eigene nicht vergessend, aber zurückrückend.

Getröstete Demut spricht aus letzten überlieferten Worten Martin Luthers: "Wir sind Bettler, das ist wahr." Das sagt einer, der darum weiß, dass er ein in Gnaden Gewürdigter ist, dass aus den Gaben eines jeden Aufgaben erwachsen, die mit Demut - und mit viel Mut! - anzupacken sind.

Mut - Freimut - Demut Szenische Lesung mit Friedrich Schorlemmer, 8.5., 20 Uhr, Christuskirche