Im Zeichnen und Malen versuchte Pierre Fertil extreme Erlebnisse zu verarbeiten. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zeigt über 60 Bilder.

Mehrere Beinpaare sind auf der Zeichnung zu sehen. Eines ganz rechts außen steckt in hohen schwarzen Stiefeln. Die anderen bekleiden gestreifte Häftlingshosen. Sie stehen mit bloßen Füßen auf den Köpfen und Körpern von am Boden liegenden Kranken oder bereits Toten. Aus tief liegender Perspektive ist die Skizze gemalt. Die grausige Szene auf dem grau-blauen Blatt wirkt geradezu unheimlich schwerelos. Pierre Fertil haben sich die Eindrücke auf der Fahrt im Todeszug nach der Auflösung des Lagers Bremen-Blumenthal eingeprägt. Viele Jahre später sollte er erst die Kraft finden, sie mit Wachskreidestiften auf Papier zu bannen. Doch das Erlebte zu verarbeiten, geschweige denn es zu vergessen, wird er wohl nie können.

Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme präsentiert erstmals in einer Sonderausstellung in Deutschland auf über 60 groß- und kleinformatigen Blättern Pierre Fertils "Albträume eines Deportierten". Nach der Eröffnung am 24. April beginnt das Programm in der "Langen Nacht der Museen" unter dem Motto "Bilder überleben".

Die Last der Erinnerung an das erduldete und gesehene Leiden als junger Mann versucht der französische Narkosearzt und ehemalige KZ-Häftling Pierre Fertil in Neuengamme erst im Alter beim Malen zu bewältigen. Als Student wurde er am 30. Juni 1944 in der Bretagne bei einer Razzia von der SS verhaftet und ins Auffanglager Compiègne nördlich von Paris gebracht. Ein Deportationszug brachte Fertil von dort mit 1000 anderen Häftlingen Ende Juli ins KZ Neuengamme, wo er unter der Häftlingsnummer 40322 registriert wurde. Der 21-Jährige kam nach Bremen-Blumenthal in ein Außenlager des KZ Neuengamme und war als Zwangsarbeiter für die Deschimag-Weser an der Produktion von U-Boot-Teilen eingesetzt.

Als die Alliierten näher kamen, wurde das Lager evakuiert. "Die Schwachen und Kranken, so wie ich, wurden in einem Zug versammelt: Le train de la mort - der Todeszug", schreibt Fertil im Katalog zu seiner ersten Ausstellung 2007 in Caen. Die Reise von 60 Kilometer Länge sollte acht Tage dauern. "Wir waren 80, 90, 100 pro Waggon. All die Kranken übereinander, voller Läuse, fast kein Brot, kein Wasser ... Eines Morgens, nach einer Stunde Schlaf erwachte ich mit zwei Toten auf mir. Als ob nichts gewesen wäre, schob ich die Kadaver beiseite und knabberte an den Brotkrümeln, die ich noch in der Tasche hatte." Im Bericht über das Lagerleben in Sandbostel beschreibt Fertil die 800 in einer Baracke auf dem Boden dahinvegetierenden Menschen als "einen lebenden Teppich, der sich reptilienartig bewegt in den Exkrementen und im Müll". Und weiter: "Fälle von Kannibalismus sind häufig. Es gibt 300 Tote jeden Tag. Überall Stapel von Leichen, manchmal sorgfältig aufgereiht. Von Zeit zu Zeit bewegt sich eine Hand, öffnet sich ein blickloses Auge."

Das erlebte Leiden hat Fertil wohl bewogen, nach der Befreiung und Rückkehr in die Heimat ein Medizinstudium zu beginnen. Er wurde Anästhesiearzt, arbeitete seit 1951 mit einem Herzchirurgen zusammen und erlebte die Fortschritte in der Kardiologie mit. Der nun schwer kranke 86-Jährige ist verheiratet, hat drei Kinder und zwei Enkel.

Nach einem Treffen ehemaliger Neuengamme-Häftlinge in Angers 1998 entdeckte Pierre Billaux bei einem Besuch des Leidensgenossen dessen Bilder und berichtet: "Während seiner schlaflosen und leidgeplagten Nächte machte Pierre seine Zeichnungen, die er anschließend verbrannte." Beeindruckt von den Arbeiten und den sie auslösenden Gefühlen, konnte Billaux Dr. Fertil überzeugen, dass die Zeichnungen als Zeugnisse der erlittenen Verfolgung, Demütigung und Entmenschlichung erhalten und aufbewahrt werden müssten.

Die Blätter - größtenteils mit Farbkreide oder Filzstift auf Hochglanzpapier, Magazinseiten oder auch Zeitungspapier angefertigt - sind manchmal datiert und mit Anmerkungen versehen. Sie dokumentieren mit erstaunlicher Kraft den Horror der Konzentrationslager. Den allergrößten Teil hat er vernichtet - als ob er damit seiner nächtlichen Albträume endlich Herr werden und sie endgültig vertreiben könnte. In der Ausstellung sind neuere, großformatige Arbeiten auf Zeichenkarton zu sehen.

Simone Veil, Überlebende des KZ Auschwitz, französische Politikerin, EU-Präsidentin und Autorin der Biografie "Und dennoch leben", schrieb über die Bilder von Pierre Fertil: "Die Zeichnungen stellen eine wahre Anthologie der Lager dar, sie sagen mehr aus als mündliche Berichte oder historische Abhandlungen."

Pierre Fertil - Albträume eines Deportierten 25.4. bis 4.7., KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Sonderausstellungsraum in den ehemaligen Walther-Werken, Jean-Dolidier-Weg 75, Mo-Fr 9.30-16 Uhr, Sa/So 12-19 Uhr (Eröffnung 24. April, 16 Uhr), T. 428 13 15 00