Wenn Eltern älter werden, wechseln häufig die Rollen: Die Kinder werden zu Ratgebern. Ein Gespräch über Würde, die richtige Pflege und Glücksmomente.

Jörg Heinsohn (47) ist Gerontologe und Mitarbeiter der Altenhilfeabteilung des Rauhen Hauses. Dort ist er verantwortlich für eine Wohngemeinschaft Demenzkranker und leitet eine Beratungsstelle für ältere Menschen und ihre Angehörigen.

Abendblatt:

Wenn Eltern älter werden, wechseln irgendwann die Rollen. Das Kind wird zum Helfer. Wie kann man sich gut in die Rolle einfinden?

Jörg Heinsohn:

Das passiert häufig automatisch. Denn das ist ja oft ein schleichender Rollenwechsel, der sich über eine längere Zeit hinzieht. Aus der ursprünglichen Kind-Eltern-Rolle wird später eine gleichberechtigte Beziehung. Dann gibt man kleine Hilfestellungen und wächst so hinein in die Rolle des versorgenden Verantwortlichen. Das Schöne daran ist, dass man Eltern noch mal näherkommt. Früher haben Eltern das Glück der Kinder produziert, jetzt kann man das zurückgeben.

Abendblatt:

Kann ich meine Eltern auf einen möglichen Pflegebedarf ansprechen, ohne sie zu kränken?

Heinsohn:

Man sollte versuchen, sie in Alltagssituationen anzusprechen, wenn einem etwas auffällt - also keine gesonderten Anlässe für ein Gespräch schaffen. Man sollte seine Eltern bei so einem Gespräch nicht in die Enge treiben, sondern behutsam Vorschläge machen. Und man sollte nicht den Helden spielen, sondern auch eigene Unsicherheiten zugeben und gemeinsam mit den Eltern über Hilfsmöglichkeiten, ihre Wünsche und Vorstellungen sprechen. Entscheidungen müssen jedoch die Eltern fällen.

Abendblatt:

Wann muss ich als Angehöriger in jedem Fall eingreifen?

Heinsohn:

Es ist dann Zeit zu handeln, wenn der Angehörige das Gefühl hat, dass etwas zu verändern ist. Und dann sollte er die Eltern ansprechen. Dabei geht es in den seltensten Fällen darum, gleich einen Pflegedienst zu engagieren. Davor gibt es viele andere Möglichkeiten. Wenn zum Beispiel die Mutter mehrfach gestürzt ist, kann man gemeinsam mit ihr nach Stolperfallen in der Wohnung suchen. Man kann Nachbarn bitten, einmal die Woche bei den Eltern reinzuschauen. Wenn die Wohnung nicht mehr sauber ist, kann öfters eine Reinigungskraft vorbeikommen.

Abendblatt:

Wie kann man den Eltern dabei ihre Würde lassen?

Heinsohn:

Das ist eine Gratwanderung, weil man immer zwischen den Vorwürfen der Bevormundung und des zu wenig Kümmerns steht. Wichtig ist es, den Willen der Eltern zu respektieren, auch wenn man völlig anderer Meinung ist.

Abendblatt:

Wie kann ich die Eltern stützen, ohne dass sie komplett von mir abhängig werden?

Heinsohn:

Indem ich die Eltern darauf hinweise, dass es vielleicht auch noch andere gibt, die sich kümmern können. Ich kann sie dabei unterstützen, die Geschwister mit in die Verantwortung zu bekommen. Man kann die Eltern an alte Freunde und Bekannte erinnern, mit denen sie sich treffen können. Es gibt auch viele Angebote in Seniorentreffs.

Abendblatt:

Warum können sich oftmals Söhne besser als Töchter aus der Verantwortung für die Eltern ziehen?

Heinsohn:

Ein wesentlicher Grund ist, dass die heutige Senioren- und Angehörigengeneration oft noch in einem klassischen Rollenverständnis groß geworden ist. Noch sind in den Angehörigengruppen und Beratungsgesprächen Männer die Ausnahme. Das wird sich aber verändern.

Abendblatt:

Manche Eltern erwarten, dass ihre Kinder sie selbstverständlich pflegen. Wie können die Kinder auf diesen Anspruch angemessen reagieren?

Heinsohn:

Man sollte sich als Angehöriger erst mal über die eigene Situation klar werden. Ich empfehle nur selten, alles stehen und liegen zu lassen, um sich um die Eltern zu kümmern. Man muss ein Maß finden, das einem genügend Luft zum Leben lässt.

Denn den Eltern ist nicht geholfen, wenn die Tochter oder der Sohn selber vor die Hunde geht. Man muss vor allem Grenzen setzen.

Abendblatt:

Was sollte man beachten, wenn man sich zur Pflege der Eltern entschließt?

Heinsohn:

Man muss sich klar werden, in welcher Intensität ich meine Eltern unterstützen kann und will. Will und kann ich rund um die Uhr pflegen oder möchte ich meine Eltern eher begleiten? Als Begleiter organisiere ich die Pflege und Betreuung meiner Eltern.

In jedem Fall sollte man unbedingt ergänzende Hilfen von außen holen, Beratungsangebote nutzen und Fortbildungen besuchen. Wichtig ist zudem, sich eigene Freiräume zu schaffen.

Abendblatt:

Die Eltern wollen auf keinen Fall in ein Heim, die Kinder können und wollen nicht pflegen. Welche Möglichkeiten gibt es?

Heinsohn:

Es ist das gute Recht von Eltern, sich ihren Wohnort auszusuchen. Das bedeutet auch die Entscheidung gegen ein Heim. Man kann sich ja heute auch zu Hause ein dichtes Netz von Betreuung vor Ort organisieren.

Abendblatt:

Wie kann ich taktvoll das Thema Heim ansprechen?

Heinsohn:

Optimal ist, wenn die Eltern sich schon sehr früh darum gekümmert und ihren Willen dazu schriftlich festgelegt haben.

Ich empfehle, gemeinsam mit den Eltern verschiedene Heime anzuschauen. Ein wichtiges Kriterium kann dabei auch sein, dass Angehörige in der Nähe wohnen. Ein Demenzkranker profitiert zum Beispiel von einem kurzen Besuch täglich mehr, als wenn ich einmal im Monat für einen ganzen Tag komme.

Abendblatt:

Die schlimmste Vorstellung für mich wäre, dass meine Eltern sich im Wesen völlig verändern . . .

Heinsohn:

So eine Demenz passiert ja nicht sofort, sondern schleichend. Und da gibt es auch sehr positive Erlebnisse - ein Lächeln, einen Moment der Zuneigung. Man gewöhnt sich an den Zustand und erfreut sich an den kleinen Dingen. Wichtig ist es, die Eltern auch dann so zu nehmen, wie sie sind. Man sollte sie nicht ständig korrigieren, sondern großzügig sein.

Abendblatt:

Was ist, wenn das Verhältnis zerrüttet ist? Muss ich mich dann um ihre Pflege kümmern?

Heinsohn:

Ich finde es legitim, wenn man sich nicht kümmern möchte, weil das Verhältnis zu den Eltern immer schlecht war. Dann sollte man es einfach lassen.