Angesichts weltweiter Krisen sind Geschenkehatz und vermeintlicher Konsumterror zur Adventszeit Petitessen, meint Hauptpastor Johann Hinrich Claussen. Er rät zum Besuch im Bucerius-Kunst-Forum. Dort versteckt sich der wahre Kern der Weihnachts-Botschaft - in einer Skulptur.

Nun beginnt sie wieder: die Hochsaison der Weihnachtsnörgler und Adventsverächter. Wie jedes Jahr - das ist auch so ein Ritual - stimmen sie ihr altbekanntes Klagelied an. Dass nun der Weihnachtsstress beginnt. Dass man plötzlich all diese Geschenke besorgen muss. Dass wieder der Konsumterror über unschuldige Menschen hereinbricht. Dass man nirgends der kitschigen Weihnachtsmusik entkommen kann. Dass Glühweinstände die Innenstadt blockieren und die Luft verpesten. Dass es nichts Vernünftiges mehr im Fernsehen zu sehen gibt. Dass man von Besinnung zu Besinnung hetzen muss.

Hört man sich diese Leier länger an, bekommt man fast den Eindruck, als wäre das Weihnachtsfest die Größte aller Menschheitsplagen.

Ich kann das nicht nachvollziehen. Allein das Wort "Konsumterror" ist eine Geschmacklosigkeit. Gegenwärtig gibt es so viel Terror in der Welt, dass man das bisschen Weihnachtsshopping damit nicht vergleichen sollte.

Auch sollte man als Erwachsener gelernt haben, dass der meiste Stress eigenverschuldet ist. Was Lebenshektik angeht, ist man sich bekanntlich selbst der größte Feind.

Aber gibt es vor Weihnachten wirklich so viel zu tun? Zum Beispiel das aufgebauschte Geschenkproblem: Man bedenke einmal, was Menschen in südlichen Weltgegenden zu leisten haben, wo es noch eine vormoderne Kultur des Schenkens gibt. Steht bei ihnen ein Besuch im Heimatdorf an, müssen sie ungezählte Tanten und Vettern mit Aufmerksamkeiten erfreuen. Hierzulande wird nur die eigene Kleinfamilie beschenkt, eine überschaubare Gruppe. Das sollte man doch hinbekommen, für diese Allernächsten mit Bedacht etwas Passendes auszusuchen. Es muss gar nicht viel sein.

Wer hat eigentlich den Befehl gegeben, dass man Kinder und Ehepartner mit Präsenten überhäufen soll? Oder wird da etwas abgebüßt? Die Reformation hat vor einem halben Jahrtausend den Ablass abgeschafft. Traurig, wenn er in einigen Wohlstandsfamilien überlebt haben sollte.

Den meisten Weihnachtsstress kann man vermeiden, indem man sich wie ein mündiger Konsument verhält. Man sollte bewusst wählen, wann und wie lange man einkaufen geht, wie viele Weihnachtsmärkte und Adventsbasare man besucht, wann man den Fernseher oder das Radio an- oder abschaltet.

Einem gewissen Pflichtprogramm ist wohl nicht zu entkommen. Aber dann kann man sich mit dem Gedanken trösten, dass damit diese Sozialverpflichtungen für ein ganzes Jahr abgegolten sind.

Für mich als Pastor ist die letzte Woche vor Weihnachten die schönste im ganzen Jahr. Nie sonst kann ich so konzentriert und entspannt arbeiten. Meine Kollegen sind beschäftigt, und die Gemeindeglieder schonen mich. Nur ganz wenige Anrufe, Termine, E-Mails stören mich.

So kann ich in himmlischer Ruhe meine Gottesdienste vorbereiten, die altbekannten Lieder auswählen und meine Predigten schreiben.

Weihnachtsstress? Wir erleben gegenwärtig so viele Krisen - ökonomischer und ökologischer, sozialer und moralischer Art -, da dürften die Herausforderungen der Festvorbereitung das Geringste unserer Probleme sein.

Ein gewisses Maß an Lebensklugheit sollte genügen, uns vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Wenn man aber erkennen will, worum sich der ganze Trubel dreht, wenn man dem Geheimniskern von Advent und Weihnachten näherkommen will, dann braucht man noch etwas anderes, nämlich eine Ahnung dessen, was es heißt, dass Gott in Jesus von Nazareth zu uns Menschen gekommen ist. Da helfen theologische Sätze nur bedingt.

Man benötigt ein lebendiges Bild von diesem Wunder. Was für ein glücklicher Zufall, dass solch ein Bild gerade in Hamburg zu Gast ist. Das Bucerius-Kunst-Forum zeigt noch bis zum Januar eine Ausstellung über mittelalterliche Sakralkunst.

Das Bild, das ich meine, steht gleich in der Mitte des ersten Raums: ein Esel aus Holz, auf dem Jesus sitzt. Diese Skulptur ist ein Prunkstück der besonderen Art. Es ist nicht vergoldet und auch nicht virtuos geschnitzt. Schlicht kommt es daher, fast derb. Man sieht ihm sein Alter an. Es ist verletzt, lädiert, wichtige Teile sind ihm verloren gegangen. Ich weiß nicht warum, aber der Anblick von Eseln löst bei mir sofort eine innere Woge der Sympathie aus. So bescheiden und freundlich wirkt dieser Esel. Und der Jesus, der auf ihm sitzt, ist kein strenger Richter oder mächtiger König, sondern wirkt sanft, unmajestätisch, ungöttlich. Ursprünglich stand dieser Esel auf einem Brett, und dieses Brett hatte Räder unten dran, sodass man ihn in Prozessionen durch die Stadt ziehen konnte. In solchen Umgängen gedachte man des Einzuges Jesu nach Jerusalem, so wie wir es in unseren Gottesdiensten am ersten Advent immer noch tun.

Es wäre nicht der schlechteste Vorsatz für die Adventszeit, wenn Sie diese Skulptur im Bucerius-Kunst-Forum gleich neben dem Rathausmarkt besuchten. Wenn Sie Angst vor einer Weihnachtsstress-Attacke haben, sollten Sie den überfüllten Weihnachtsmarkt umkurven.

Und dann sollten Sie in Ruhe diesen Esel und seinen Herrn betrachten. Vielleicht summen Sie dabei die schönste Zeile des evangelischen Gesangbuches: "Sanftmütigkeit ist sein Gefährt", so heißt es in der zweiten Strophe von "Macht hoch die Tür". Lassen Sie dieses Bild auf sich wirken und setzen Sie sich innerlich hinter Jesus auf diesen Esel. Teilen Sie seine Sanftmütigkeit, dann kommen Sie gut durch die Adventszeit.

Aber nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Sie sollen sich nur in Gedanken auf den Esel setzen. Denn wenn Sie es im Überschwang frommer Begeisterung wirklich versuchten, dann hätten Sie ausnahmsweise einmal richtig Stress.