Beim Bibliolog beteiligen sich die Besucher an der Bibelauslegung. So wird der Gottesdienst lebendiger.

Der Anblick ist etwas ungewohnt. Pastorin Susanne Kaiser sitzt im schwarzen Talar in der ersten Stuhlreihe der evangelisch-lutherischen Martin-Luther-Kirche in Alsterdorf. Die Hände im Schoß, abwartend, gespannt. Sie hat die Regie in ihrem Gottesdienst an diesem Sonntagmorgen vorübergehend einem Mann in legerer Freizeitkleidung überlassen, der nun gestikulierend zwischen den Stuhlreihen der Kirche hin- und hergeht.

"Was jetzt kommt, ist eine Predigt mit allen", kündigt Frank Muchlinsky an, der sich zuvor als Pastor vorgestellt hat. Er möchte gemeinsam mit den Besuchern eine Reise in die Bibel unternehmen. "Jeder darf mitmachen, man kann bei der Sache nichts falsch machen", erklärt Muchlinsky in die gespannte Stille der Kirche hinein.

In biblischen Texten gäbe es viele sprachliche Bilder, so werde etwa Gott wie ein Adler betrachtet, fährt der Pastor fort. "Was ist denn der Adler für ein besonderer Vogel?", fragt er dann ins Publikum. Eine kleine gefühlte Ewigkeit bleibt es ruhig in der Martin-Luther-Kirche. Dann sagt ein Konfirmand: "Ein großer Vogel." Ein älterer Herr ergänzt: "einer mit guten Augen", "und mit weiten Schwingen", sagt eine Frau in einer hinteren Reihe. "Fittiche ist ja so ein altes Wort für Flügel", fällt Frank Muchlinsky ein und lässt die Besucher noch ein wenig weiter fantasieren. "Sie gleiten", sagt einer, und Muchlinsky verstärkt die Aussage: "Das hat etwas Majestätisches."

Bibliolog heißt die Methode, mit der Frank Muchlinsky arbeitet. "Es ist eine sehr kreative Form des Umgangs mit der Bibel in einer Gruppe", sagt der Pastor, der bei der Diakonie Hamburg in der religionspädagogischen und theologischen Fortbildung tätig ist.

Die Methode wurde von dem jüdischen Literaturwissenschaftler Peter Pitzele entwickelt, bei ihm lernte Muchlinsky sie vor etwa zehn Jahren. Sie geht zurück auf "Midrasch", eine jüdische Tradition der Bibelauslegung. "Der Bibeltext ist als 'schwarzes Feuer' geschrieben, die weißen Zwischenräume zwischen den Buchstaben - das 'weiße Feuer' - darf mit eigenen Ideen gefüllt werden", sagt Frank Muchlinsky. Auch ein Bibliolog eröffnet den Raum für eigene Gedanken und aktiviert das Gespräch. Muchlinsky wirkt dabei wie ein Moderator.

Und als solcher stellt er immer wieder neue Fragen, lädt die Zuhörer ein, sich in eine andere Rolle hineinzuversetzen. "Stellen Sie sich vor, Sie sind eine werdende Adlermutter oder ein Adlervater, was würden sie tun?" "Ein Nest bauen", "aber eins mit Federn". "An welchem Ort?" "Es muss ein sicherer Ort sein." "Oben auf einer Astgabel." "Wie werden sich die Adlerküken dort fühlen?" "Wohlbehütet", "geschützt", "aber sie brauchen ein Guckloch, um mal in ihre Umwelt zu schauen". Die Gedanken fließen.

"Ich bin immer wieder erstaunt, was für Ideen kommen", sagt Pastorin Susanne Kaiser, die schon öfter ein Bibliolog mitgemacht hat. Sie sieht darin eine Bereicherung für den Gottesdienst. "Das Gefälle von Pastor und Gemeinde hebt sich auf. Die Menschen können hier im Gegensatz zur Predigt ihre eigene Sicht zu biblischen Texten äußern und jeder Gedanke wird wertgeschätzt", sagt die Pastorin.

In der Martin-Luther-Kirche liest der Bibliolog-Leiter nach etwa 15 Minuten aus dem Psalm 91 vor, in dem der Mensch unter dem "Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt". "Er wird dich mit seinen Fittichen decken und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild", heißt es im Text Muchlinsky gibt den Zuhörern zum Abschluss des Bibliologs noch eine Frage mit auf den Weg: "Stellen Sie sich einmal für sich vor, wie Gott sich wie ein Vogel über Sie breitet."

Im Anschluss an den Gottesdienst stehen noch einige Besucher im Vorraum der Kirche zusammen. "Ich finde den Bibliolog eine gute Auflockerung des Gottesdienstes", sagt Klaus Nebert. Gemeindemitglied Erika Günther hat das schon öfter mitgemacht und resümiert: "Da kommen nicht immer, aber manchmal ganz tolle Ideen zusammen, die einen zum Nachdenken anregen."

Frank Muchlinsky sieht sein Ziel erreicht, wenn er bei den Zuhörern etwas anstoßen konnte. "Durch die Äußerungen der Teilnehmer und deren Weiterentwicklung in der Gruppe kann ein biblischer Text am Ende sehr lebendig werden", sagt Pastor Frank Muchlinsky.

Für den Ausbilder im Deutschen Netzwerk Bibliolog ist die Methode nicht nur für den Gottesdienst geeignet, sondern auch im Religionsunterricht oder in der Konfirmandenarbeit anwendbar - eben überall dort, wo ein Dialog über die Bibel lebendig gestaltet werden soll.

Weitere Infos unter: www.muchlinsky.de und www.bibliolog.de