Der Starpianist Joja Wendt ist kein klassischer Kirchgänger, er lebt seinen Glauben lieber individuell. Zwar spielt er gerne in Gotteshäusern, doch Gottesdienste besucht er nur an Festtagen. Dann geht er in die Christuskirche Othmarschen

Als Joja Wendt mit dynamischen Schritten die Christuskirche Othmarschen betritt, wartet Klaus Würgau schon einige Zeit sichtlich nervös auf ihn. Der Leiter der Gemeinde-Kita will den Pianisten auf keinen Fall verpassen, schließlich hat er ein großes Anliegen an den Künstler. Die Kita soll ausgebaut werden und er will Joja Wendt um ein Benefiz-Konzert dafür bitten. Das hat schon einmal geklappt, vor sieben Jahren. "Da waren die Karten für das Konzert im Gemeindesaal in 40 Minuten ausverkauft", sagt Würgau - das hatte er noch nie zuvor und nie wieder danach erlebt. Aber schließlich ist Joja Wendt auch ein Unterhaltungsstar, ein Pianist, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in Asien Erfolge feiert. Die Nervosität ist grundlos, Joja Wendt umarmt den Kita-Leiter mit den Worten "Mensch Würgi, altes Haus", und sagt für das Konzert sofort zu.

Das ist sympathisch. Überhaupt kommt der 47-Jährige offen und eloquent rüber. Aber auch immer unter Strom. Der schlanke, fast drahtige Hamburger ist ständig in Bewegung. Einen Moment sitzt er auf der Kirchenbank, dann steht er auf und geht zur Ernst Barlach-Bronzestatue neben dem Altar. "Ich mag den Künstler und diese Statue ganz besonders, die offenen Hände sind schön", sagt er. Eigentlich gefällt ihm alles an der neugotischen Kirche, die mit ihrem hellen Äußeren, den grünen Dächern und den Sandsteinbögen im Inneren, perfekt zu ihrem Stadtteil passt. Joja Wendt lobt die Beckerath-Orgel, "die klanglich wunderbar auf die Größe der Kirche abgestimmt ist".

Es ist seine Kirche, seine Gemeinde. "Sie ist für meine Familie und mich der soziale Treffpunkt und das verbindende Element im Stadtteil. Meine Kinder waren hier in der Kita", sagt er. Und mit dem Gospelchor hat er schon ein Konzert in der Laeiszhalle gegeben. "Die waren so gut, dass Stefan Gwildis sie direkt danach gebucht hat."

Dennoch ist Wendt kein eifriger Kirchgänger, nur an den großen Feiertagen kommt er mit seiner Frau und den beiden Kindern hierher. Auch verbindet er mit der Institution Kirche eine gehörige Portion Skepsis. Er lehnt jede Form von "missionarischem Eifer" ab. "Ich mag selbstbestimmten Glauben", sagt er. Und ob er wirklich tief gläubig ist, kann er nicht beantworten. Es gibt Momente, an denen er betet, "wenn meine Flugangst mich übermannt, bitte ich Gott, mich heil zum Boden zurück zu bringen." Generell stellt er sich Gott nicht als Person vor. "Der Mann mit dem Rauschebart ist doch Blödsinn." Vielleicht ist es eine Energie, ein Zwischenraum oder etwas, das die Gesetzmäßigkeit unseres Systems bestimmt. "Gott ist in uns allen", versucht er als nächstes - er schwimmt sichtlich in seinen Überlegungen.

Joja Wendt braucht klare, reale Vorbilder, sein Vater ist eins, oder sein ehemaliger Klavierlehrer, der Blues-Musiker Abi Wallenstein - aber auch ein Pastor aus Vlotho (Ostwestfalen) ist darunter. Den hat er gemeinsam mit der Sängerin Inga Rumpf kennengelernt. "Pastor Hartmut Birkelbach ist ein toller Mensch, der gibt sein ganzes Leben für die Gemeinde", sagt Wendt sichtlich bewundernd. Für Birkelbach hat er sogar ein Lied mit dem Titel "L'eglise" (Kirche) komponiert, dort mehrfach Kirchenkonzerte gegeben, wie er überhaupt gerne in Kirchen spielt: "Wegen der tollen Akustik, der feierlichen Atmosphäre und weil es die Menschen, die sonst vielleicht damit nichts zu tun haben, in die Kirchen zieht", sagt Wendt.

Gotteshäuser sind ihm von frühester Kindheit an vertraut. Schließlich ist seine Mutter ausgebildete Konzert- und Oratoriensängerin, "ich habe sie viel in Kirchen begleitet". Und er ist oft mit ihr umgezogen, nach der Trennung vom Vater, einem Arzt, aus Istanbul nach Berlin, dann Dortmund, später München. Mit 17 Jahren erst zog er zu seinem Vater nach Osdorf, macht am Lise-Meitner-Gymnasium sein Abitur und arbeitete "erfolgsorientiert" an seiner Karriere als Pianist.

Als er klein war, waren Joja und seine zwei Jahre ältere Schwester ziemlich auf sich gestellt. Denn seine Mutter fing mit Mitte 30 neu an, studierte Musik, machte Karriere. "Ich war ein richtiges Schlüsselkind." Er berichtet von Szenen, als er als Kind am Bahnhof stand und ihn keiner abgeholt hat, davon dass er wegen der Umzüge zweimal sitzen blieb, weil er immer wieder neu anfangen musste, sagt, dass das Klavier oft wie ein Partner war. "Ein Ventil für alle Gefühle, die mich bewegten". Es klingt nach einer traurigen, unsteten und einsamen Kindheit, etwas, das Joja Wendt weit von sich weist. "Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, denn ich wurde geliebt", sagt er fast schon trotzig. Er glaubt, dass sie ihn stark und selbstständig gemacht habe. Und dass sich aus all diesen dann doch "schmerzhaften Erfahrungen", sein positives, fröhliches Wesen geformt hat. "Mich kann nichts mehr erschüttern, ich komme überall auf der Welt zurecht."

Selbst als ihm ein Autounfall 1991 die Hand zertrümmerte und er laut Arzt-Diagnose nie wieder Klavier spielen sollte, habe ihn das nie runter gerissen. "Ich habe mich einfach eingeschlossen und wie ein Besessener geübt. Bis ich weiter war als viele andere."

Joja Wendt sagt solche berührenden Sätze mit einem strahlenden Lächeln, während seine Finger unentwegt auf den Tisch trommeln und er immer die volle Aufmerksamkeit seines Gegenübers sucht. Und obwohl er sich als "unentwegt gut gelaunten Menschen, der aus allem negativen etwas positives macht", bezeichnet, sind die Widersprüche in ihm, seine überspielte Verletzbarkeit doch offensichtlich. Sicher, er weiß zu schätzen, was er hat, sein Glück in der Ehe, zwei tolle Kinder, einen Beruf, der ihn ausfüllt und gut ernährt. Aber auch er braucht Momente, in denen er zu sich kommen kann, die ihn ruhig und besinnlich werden lassen.

Tatsächlich habe er diese Augenblicke manchmal in einer Kirche, sagt er, aber viel intensiver in den griechischen Athos-Klöstern, die er schon vier Mal besucht hat. Das ist ein Verbund von 20 Männerklöstern, die weit ab von den Errungenschaften der Zivilisation leben und die Pilgern ein Visum von maximal vier Tagen gewähren. Joja Wendt war zuletzt mit vier Freunden dort im September und er hat schon wieder Sehnsucht danach. "Da kann ich einfach abtauchen in eine völlig andere Welt." Es gibt dort kein Klavier, keine Bewunderer und keinen Erfolgsdruck - und vielleicht auch mal einen traurigen, stillen und schlecht gelaunten Joja Wendt.