Das SHMF feiert dieses Jahr ein wahres Klavierfest, auch mit westlichen Pianisten

Von allen Wundern der Musik ist das Klavierspiel wohl das unwahrscheinlichste. Das Instrument des Sängers ist sein eigener Körper; Bläser hauchen ihrem Klangerzeugungsgerät mit dem Atem Leben ein; und die Streicher schmiegen sich im innigen Körperkontakt an ihr Instrument. Der Pianist aber sitzt einem mechanischen Monstrum gegenüber, das so groß und so schwer ist, dass er es alleine allenfalls auf Rollen bewegen kann. Kontakt zu diesem Apparat nimmt er über ein Interface, genannt Klaviatur, auf, bei dem der Reichtum des klanglich Denkbaren in 88 Einheiten vorformatiert ist. Seine einzige Klangerzeugungsmöglichkeit besteht darin, vermittels einer komplexen Mechanik Töne anzuschlagen, auf deren Entfaltung der Spieler nach der Auslösung des Hammers keinerlei Einfluss mehr hat.

Dass man demnach auf einem solchen Kasten "singen" kann, dass echte Künstler ihm gar ein klingendes Abbild seelischer Vorgänge entlocken, erscheint als Triumph der Kunst schlechthin. Alle Großen der Pianistenzunft scheinen dafür ihr Betriebsgeheimnis zu haben: Einige streichen den athletischen Aspekt in der Beherrschung von einer halben Tonne Gusseisen und Hartholz heraus, andere verklären den Hammerapparat ins Ätherische. Beim Schleswig-Holstein Musik Festival sind neben vielen Pianisten aus China neun westliche Pianistenpersönlichkeiten zu erleben. Und das Faszinierende dabei ist: Jeder bringt das Monstrum auf andere Art zum Klingen.

Denis Matsuev wirkt schon seiner bulligen Physis wegen so, als könnte er seinen schwarzen Kasten eigenhändig auf die Bühne heben. Beim SHMF 2008 verabschiedete der Russe sich mit zwei Zugaben, die in ihrer Gegensätzlichkeit wie eine ironische Visitenkarte dieses Tastenmatadors wirkten: Nachdem er Rachmaninows Drittes Klavierkonzert gestemmt hatte, gab Matsuev ein herzallerliebstes Spieluhrenstück zu. Doch das Schmunzeln über die niedliche Musik, die da unter den Händen des russischen Bären hervorkam, verging einem jäh, als das Kraftpaket gleich darauf eine mechanikmordende Version von Griegs Trolltanz in die Tasten seines beklagenswerten Flügels meißelte. Beim SHMF 2012 spielt Matsuev nun den Klassiker aller Virtuosenkonzerte, Tschaikowskys b-Moll-Konzert (19.7. Kiel). Dagegen erscheint Matsuevs Landsmann Arcadi Volodos, der mit seinen aberwitzigen Klassikerbearbeitungen selbst Horowitz in den Schatten stellte, fast schon vergeistigt: Für ihn sind Virtuosen generell Magier. Am 18. Juli verzaubert Volodos sein Publikum in Wotersen mit Schubert, Brahms und Liszts h-Moll-Sonate.

Der Gedanke, dass die große Hammermaschine etwas Fremdes, Äußerliches sein könnte, ist Anna Vinnitskaya gewiss noch nie gekommen. Die zierliche Russin sagt von sich selbst, sie habe nie etwas anderes als Pianistin werden wollen. Und die Tochter zweier Pianisten spielt tatsächlich mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als wäre sie als Zwillingsgeburt zusammen mit einem Tastenkasten auf die Welt gekommen. Am 23. Juli spielt sie in Plön Klaviertrio mit dem Geiger Erik Schumann und dem Cellisten Nicolas Altstaedt.

Der große Intellektuelle unter den Pianisten wiederum, der New Yorker Murray Perahia, bekennt sich öffentlich zu seinem Unvermögen (auf höchstem Niveau). Auf die Frage, warum er, der Klassiker-Spezialist, nicht alle Beethoven-Sonaten öffentlich spiele, antwortete er einmal lakonisch: "Weil sie schwierig sind." Ein Schelm, wer glaubt, dass Perahia für sein Konzert in Kiel am 17. August deshalb Schubert, Chopin und Schumann aufs Programm setzte.

Fast ein Schock für alle Beethoven-Fans waren die Interpretationen der Waldstein-Sonate und von op. 111, die Leif Ove Andsnes 2011 in der Laeiszhalle präsentierte. So kristallin und provokativ pathosfrei hatte man diese Werke selten gehört. Erst wer genauer hinhörte, merkte, dass dieser scheinbar so nüchterne Pianist nicht nur Stücke, sondern komplette Programme gestaltet. Seine klug dosierten Mittel stehen im Dienste eines großen, den Abend überspannenden Bogens. So auch bei Andsnes' Konzert am 12. August in Altenhof mit Beethovens op. 53 und 54 und Chopins Balladen. Eine unangefochtene Institution in Sachen Beethoven ist Radu Lupu. Ihn kann man an zwei Abenden mit Beethovens 3. Klavierkonzert erleben (3.8. Hamburg-Marmstorf, 4.8. Lübeck).

Auf dem Klavier zu "singen" galt Jahrhunderte lang als Ideal für Pianisten. Dass man das Klavier auch als Rhythmusinstrument behandeln kann, war eine Revolution des frühen 20. Jahrhunderts. Das Duo Katia und Marielle Labèque spielt nun zusammen mit zwei Drummern Jazz-inspirierte Musik von Gershwin und Bernstein (3.8. Kiel, 4.8. Elmshorn). Und richtig jazzig wird's bei den Auftritten des "deutschen Jazzwunders" Michael Wollny und seinem Trio (17.7. Hamburg, 18.7. Altendorf).