In seiner zweiten Saison beim NDR Sinfonieorchester setzt Chefdirigent Thomas Hengelbrock seinen eigenwilligen, hochinspirierten Programmkurs fort

"Er singt und siegt: Der Saal liegt dem Orchester und seinem neuen Chef zu Füßen", schwärmte "Spiegel Online" nach dem Antrittskonzert von Thomas Hengelbrock im September 2011. Und die Tageszeitung "Die Welt" erlebte ein "enorm vielfältiges Programm" und urteilte: "Hengelbrocks Kompromisslosigkeit hat sich schon in dieser ersten Feuerprobe ausgezahlt."

Keine Frage, die "Opening Night" des NDR Sinfonieorchesters war ein voller Erfolg. Der rauschende Beginn einer neuen Ära. Dieser Einstand soll keine Eintagsfliege bleiben: Auch in Zukunft wollen Hengelbrock und seine Musiker jede neue Spielzeit mit einem Sonderkonzert begrüßen.

Zum Auftakt der kommenden Saison am 7. September entführt der neue Chefdirigent seine Hörer nach Wien - zu einer musikalischen Melange, die den unerschöpflichen stilistischen Reichtum der Musikmetropole abbildet. Schuberts große C-Dur-Sinfonie ist dabei, aber auch einzelne Szenen aus Mozarts "Don Giovanni", und schließlich Werke der großen Operettenmeister Franz Lehár und Franz von Suppé. Ob der Maestro dann auch wieder selber mitschmettert, und die Damen des NDR Sinfonieorchesters wieder als entzückender Frauenchor an die Rampe treten, wie im letzten Jahr?

Wird man sehen. Und hören. Eins ist jedenfalls klar: Hengelbrock überrascht sein Publikum gern mit frischen Ideen. Zum Beispiel mit der eines neu gegründeten NDR Jugendsinfonieorchesters. Bei der "Opening Night" dirigiert der gebürtige Wilhelmshavener auch diesen sehr jungen Klangkörper, in dem herausragende Talente aus Norddeutschland zusammenkommen und unter Anleitung ihrer erfahrenen Kollegen musizieren.

Damit setzt der Chefdirigent ein wichtiges Zeichen für die Nachwuchsförderung und erweitert den gewohnten Rahmen eines klassischen Konzerts. Hengelbrock meidet Routinen und hält sich nicht an die üblichen Grenzen - auch nicht in der Repertoiregestaltung. Die traditionellen Trennlinien zwischen der so genannten "Alten" und "Neuen" Musik, zwischen dem sinfonischen und oratorischen Repertoire ignoriert er. Als lustvoller Entdecker bedient sich Thomas Hengelbrock im Fundus der Musikgeschichte und verknüpft scheinbar vertraute mit selten gespielten Werken. Das zeigt sich auch an den Programmen der neuen Saison, die wieder eine große Bandbreite abdecken.

Gleich im ersten Abo-Konzert des Chefdirigenten (20./23.9.) ist so eine Begegnung zu erleben. Da trifft Gustav Mahlers fünfte Sinfonie - berühmt für ihren Adagietto-Satz mit Streichern und Harfe - auf das Klavierkonzert des Jubilars Witold Lutoslawski. Ein sträflich vernachlässigtes Meisterwerk, in dem der polnische Komponist immer wieder Verbindungen zur Musik der Vergangenheit aufschimmern lässt: mit Assoziationen an die großen Klavierkonzerte von Chopin, Brahms, Rachmaninow oder Bartók. Lutoslawski verwebt diese Einflüsse mit seinen ganz eigenen Ideen und Techniken zu einer faszinierend farbenreichen Klangsprache und spielt dabei mit dem wechselnden Verhältnis von Solist und Orchester. Im zweiten Satz scheinen sich beide gegenseitig zu jagen; im dritten entwickelt sich ein Dialog.

Ein weiteres Beispiel für Hengelbrocks epochenübergreifende Ideen ist ein spannendes Programm im Spätherbst (22./23.11.), das Werke von Johann Sebastian Bach und Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) miteinander verschränkt. Nach dem ersten Teil von Bachs Johannes-Passion erklingt Bernd Alois Zimmermanns letztes Werk, seine "Ekklesiastische Aktion" mit dem Titel: "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht unter der Sonne". Zimmermann vertont dort das berühmte Großinquisitor-Kapitel aus Dostojewskis "Die Brüder Karamasow", in dem der russische Autor an die Passionsgeschichte Jesu anknüpft. Am Ende seines Stücks zitiert Zimmermann den Choral "Es ist genug" aus der Bach-Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" - die bildet dann auch den Abschluss des Konzerts. Als Sprecher für die Rolle des Großinquisitors hat Hengelbrock den Schauspieler Klaus Maria Brandauer engagiert, mit dem er schon viele literarisch-musikalische Projekte konzipiert und aufgeführt hat.

Hengelbrock prägt das Profil, aber selbstverständlich stehen auch noch andere namhafte Dirigenten am Pult des NDR Sinfonieorchesters, darunter unter anderem sein Vor-Vorgänger Christoph Eschenbach. Er vereint Werke von zwei weiteren Jubilaren des Jahres 2013 zu einer ungewöhnlichen Kombination: Im April (11./14.4.) konfrontiert Eschenbach Wagners Siegfried-Idyll und Brünnhildes Schlussgesang aus der "Götterdämmerung" - gesungen von Petra Lang - mit der Kammermusik Nr. 1 und der Sinfonie in Es von Paul Hindemith.

Hindemith steht auch im Zentrum des ersten Eschenbach-Auftritts (26.10.). Vor der 4. Schumann-Sinfonie dirigiert er dort die Sinfonischen Variationen über ein Thema von Weber und Hindemiths Violinkonzert, mit der fantastischen Geigerin Midori.

Sie ist eine von vielen namhaften Solisten der kommenden Saison. Unter anderen spielt Midoris Kollegin Lisa Batiashvili das Beethoven-Konzert (18./21.10.); Frank Peter Zimmermann ist mit Schostakowitsch zu erleben (6.12./9.12.), in einem rein russischen Programm unter Leitung von Alan Gilbert. Der erste Gastdirigent des NDR Sinfonieorchesters, seit 2009 Chef des New York Philharmonic Orchestra, kommt noch ein zweites Mal nach Hamburg. Anfang des Jahres 2013 (31.1./1.2. 2013) widmet sich Gilbert dem Doppelkonzert von Brahms und setzt außerdem den Bruckner-Zyklus des NDR fort: mit einer Aufführung der unvollendeten Neunten.

Für die Siebte - Bruckners beliebteste Sinfonie - konnte das Orchester Kent Nagano gewinnen, der außerdem seiner Messiaen-Vorliebe frönen wird und dessen Stück "Le Réveil des oiseaux" für Klavier und Orchester dirigiert. Am Flügel sitzt dann die Pianistin Angela Hewitt (8./11.11.).

Eine weitere lieb gewonnene Tradition des Orchesters sind die Mahler-Interpretationen unter Leitung von Altmeister Michael Gielen. Seine Lesart von Mahlers 3. Sinfonie erklingt im Januar (17./20.01.2013), vier Wochen nach dem Gastspiel von Semyon Bychkov mit Werken von Dukas und Ravel sowie Strawinskys "Petruschka" (20./21.12).

"Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky gehört auch zu den Jubilaren des kommenden Jahres: 1913 erlebte das Stück seine skandalumwobene Uraufführung, bei der nicht nur ordentlich gebrüllt, gelacht und gepfiffen, sondern auch geprügelt wurde. Heute wird die kraftstrotzende Ballettmusik meist bejubelt - sicher auch, wenn es der junge Maestro Krzysztof Urbánski leitet, der außerdem Lutoslawskis "Mala sulta" und das 2. Chopin-Klavierkonzert dirigiert (16./19.5. 2013).

Im Februar liegt französischer Farbzauber in der Luft. Lawrence Foster - ein Mann mit besonderem Faible für (zu) selten aufgeführte Musik - beginnt sein Programm mit Faurés "Pelléas et Mélisande", begleitet dann Arcadi Volodos bei Ravels G-Dur-Klavierkonzert und endet schließlich mit der C-Dur-Sinfonie von Paul Dukas (14./17.2.2013). Dagegen kommt einem das Konzert mit Donald Runnicles trotz der französischen Komponisten eher spanisch vor. Unter dem Motto "Rapsodie espagnole" vereint das Konzert unter anderem das gleichnamige Stück von Ravel und dessen "Alborada del gracioso" sowie exotisch angehauchte Werke von Chausson und Messiaen (5.4.2013).

Der Finne Sakari Oramo konzentriert sich aufs spätromantische Repertoire und bringt unter anderem das Violinkonzert seines Landsmanns Jean Sibelius mit in die Laeiszhalle, wo die junge Geigerin Alina Pogostkina den Solopart übernehmen wird (21./24.3.).

Und, apropos Solo: Die Mitglieder des NDR Sinfonieorchesters treten nicht nur im Tutti, sondern auch in kleineren Besetzungen in Erscheinung, etwa bei den Kammerkonzerten. Deren Repertoire erstreckt sich von Beethovens Serenade für Flöte, Violine und Viola über das Klavierquintett von Vaughan-Williams bis zu Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug.

Außerdem tritt das Orchester in der Nachwuchs-Reihe "Podium der Jungen" und beim "neuen werk" in Erscheinung. Seine enorme Wandlungsfähigkeit zeigt der Klangkörper schließlich auch mit den Auftritten auf Kampnagel: Dort spielt das Orchester Szenen aus "Alice in Wonderland" von Unsuk Chin (8.2.2013) und begleitet den Percussion-Derwisch Martin Grubinger (14.6.2013). Grenzüberschreitungen allerorten: "Anything goes", das Motto des Antrittskonzerts vom letzten Jahr, gilt auch für die nächste Saison. Alles ist erlaubt. So lange die Qualität stimmt.

Opening Night 2012 7.9., 19.00, Laeiszhalle. Karten unter T. 0180/178 79 80* oder www.ndrticketshop.de