Das Festival lädt zu einem wahren Reigen internationaler Gesangsstars, vom Lied bis zur Operngala

Nichts geht uns so nah wie der Klang der menschlichen Stimme. Sie rührt uns tief im Unterbewussten, denn jeder von uns war schon vor der Geburt mit der Stimme der Mutter vertraut. Im Singen zeigt sich die ganze Persönlichkeit eines Menschen; die gängige Aufteilung in Stimmfächer wie dramatisch, lyrisch und so fort ist nichts als eine hilflos grobe Kategorisierung gegen die unendliche Vielfalt der Temperamente, Farben, Stimmlagen. Genau genommen gibt es so viele Stimmtypen wie Menschen auf der Welt.

Das SHMF lädt denn auch zu einem ganzen Kaleidoskop an Stimmen und vokalen Genres. Vom Liederabend über das Oratorium bis zur Operngala erstreckt sich das Spektrum der Werke, die diesen Sommer zu erleben sind.

Für Pretty Yende wurde die Neugier auf die menschliche Stimme zu einem Wendepunkt. Aufgewachsen in einer entlegenen Township Südafrikas, hatte das Zulu-Mädchen nie etwas mit klassischer Musik zu tun gehabt - bis zu dem Tag, als ihr im Fernsehen die Hintergrundmusik einer Werbung für eine Fluglinie auffiel, das Blumenduett aus Léo Delibes' Oper "Lakmé". "Das ist Oper", beschied ihr Lehrer ihre Nachfrage lakonisch. Von da an nutzte Yende jede Chance, mehr über die Oper zu erfahren. Mit verblüffendem Erfolg: Rund ein Jahrzehnt später hat sie so ungefähr alles gewonnen, was es an bedeutenden Gesangswettbewerb der Welt zu gewinnen gibt, und kann sich vor Engagements kaum retten. Beim Festival gibt sie einen Liederabend mit dem Pianisten James Vaughan und erhält den Förderpreis der Walter und Charlotte Hamel Stiftung des Jahres 2012.

Da ist sie in guter Gesellschaft. Vor vier Jahren bekam den Preis die Sopranistin Christiane Karg, die dem Hamburger Publikum noch von ihrer Zeit als Mitglied des Internationalen Opernstudios bekannt ist. Damals war sie im Begriff, ihr erstes Engagement an der Frankfurter Oper anzutreten, seither hat sie eine kometenhafte Karriere hingelegt. Erst jüngst kehrte sie zu einem umjubelten Liederabend mit ihrem kongenialen Liedpartner Burkhard Kehring nach Hamburg zurück.

Beim diesjährigen Festival präsentiert sich Karg gleich mit drei Programmen. So hat sie einen Liederabend vom Feinsten zusammengestellt, kenntnisreich und eigenwillig wie stets: Mit dem Rezitator Rolf Becker, dem Bariton Michael Nagy, dem Bass Tareq Nazmi und dem Pianisten Gerold Huber unternimmt die Sängerin einen literarisch-musikalischen Streifzug durch zwei Schlüsselwerke Goethes: Sie schlüpft in die Rolle der Mignon aus "Wilhelm Meister" und Gretchens aus dem "Faust" in Vertonungen von Schumann.

Auch Kargs Auftritt beim Eröffnungskonzert des Festivals steht im Zeichen der Verbindung von Dichtung und Musik: Thomas Hengelbrock, der Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, und der Schauspieler Klaus Maria Brandauer haben gemeinsam eine szenische Fassung von Edvard Griegs Musik zu Henrik Ibsens Gedicht "Peer Gynt" konzipiert. Karg verkörpert in der Produktion die Figur der Solveig. Und schließlich übernimmt sie die Sopranpartie in Werken von Arvo Pärt und Johannes Brahms mit dem Schleswig-Holstein Festival Chor und dem Kammerorchester Basel unter der Leitung von Rolf Beck.

Beck und der Festivalchor bringen noch ein weiteres Oratorium zur Aufführung. Bei Händels "Solomon" ist ein ganzer Schwung wunderbarer junger Sänger zu erleben, begleitet vom Elbipolis Barockorchester Hamburg. Die Sopranistinnen Nuria Rial und Simona Saturová haben sich bereits als Originalklangspezialistinnen einen Namen gemacht. Von der Partie ist auch die Mezzosopranistin Lucia Duchonová, die sich zudem eine Woche später in den Reigen an reizvoll zusammengestellten Liederabenden gesellt: "Alla zingarese" heißt ihr Programm, zu deutsch auf Zigeunerart.

Abseits der ausgetretenen Repertoirepfade bewegt sich auch die Mezzosopranistin Janina Baechle. "Asiatische Impressionen" überschreiben sie und der Pianist Markus Hadulla ihren Liederabend, auf dessen Programm sich Kostbarkeiten finden wie etwa eine Auswahl aus Granville Bantocks hochromantischen "Songs from the Chinese Poets" oder eine Hommage an den polnischen Komponisten Karol Szymanowski. Bis nach China führen sie ihre Hörer mit den in Musik gegossenen Reiseerfahrungen von Albert Roussel. Und für die weiche Landung in heimischen Gefilden sorgen Lieder von Johannes Brahms.

Eine Grenzerfahrung anderer Qualität wird das Konzert mit dem Bariton Matthias Goerne. Der kann seiner erklärten Vorliebe für das Lied und ganz besonders das Schubertlied in leicht abgewandelter Form frönen: Mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Christoph Eschenbach bringt Goerne Lieder von Schubert zu Gehör, die späte Bewunderer des Komponisten wie Brahms, Reger oder Weber für Orchester bearbeitet haben. Dagegen setzen die Künstler im Verein mit dem Rezitator Ulrich Matthes die tief erschütternde "Ekklesiastische Aktion" von Bernd Alois Zimmermann. In dem Werk, entstanden kurz vor seinem Freitod 1970, hat Zimmermann sein höchstpersönliches, düsteres Glaubensverständnis in Töne gesetzt.

Sehr dringlichen Fragen widmen sich auch "Agrippina", "Amadigi", "Orlando" und Georg Friedrich Händels übrige 39 Opern. Häufig haben sie, wie es sich für das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschende Genre der Opera seria gehörte, staubtrockene Heldensagen der Antike zum Gegenstand, mit deren Aufführung dem amtierenden Herrscher gehuldigt werden sollte. Dass sie dennoch unsterblich geworden sind, liegt an Händels hoher Kunst, seine Figuren in all ihren Seelenzuständen zwischen Liebesnot, Hoffnung und Wahnsinn psychologisch so subtil zu erfassen, dass sie uns bis heute packen. Beim Festival sind Ouvertüren, Rezitative und Arien aus ausgewählten Opern in einer wahren Luxusbesetzung zu erleben: Das Freiburger Barockorchester, eins der führenden Originalklangensembles, begleitet den amerikanischen Countertenor Bejun Mehta.

Mehta, als Countertenor spätberufen, hat sich in den wenigen Jahren an die Spitze seines Fachs katapultiert. Ob es ihm geholfen hat, dass er ein Neffe des berühmten Dirigenten Zubin Mehta ist, ist nicht überliefert. Von wirklich unterprivilegierten Verhältnissen wie im Fall Pretty Yendes kann man aber wohl eher nicht sprechen. Die Wege zum Gesang, sie sind fast genauso vielfältig wie die Sänger selbst.