Ikonen der amerikanischen Moderne in einer Ausstellung im Bucerius Kunst Forum

Fotografie ist eine Form der Kunst. Niemand würde das heute in Zweifel ziehen. Doch erst im Jahre 1940 hat das New Yorker Museum of Modern Art als weltweit erstes Haus ein Department of Photography eingerichtet. Im vibrierenden Melting Pot New York City herrschte offenbar der ideale Pioniergeist für das neue Medium, das sich hier - initiiert von besessenen Förderern und Galeristen - einen Platz in der Kunstgeschichte erobert hat. Das künstlerische Spiel aus Licht und Schatten, die Auswahl des Objekts und der Perspektive nahmen von hier aus ihre Entwicklung.

Die Schau "New York Photography 1890-1950. Von Stieglitz bis Man Ray" zeichnet bis zum 2. September im Bucerius Kunst Forum diese Entwicklung nach. Ausgehend von einer impressionistischen Bildauffassung um 1890 bis zur street photography und der fotografischen Abstraktion in den 1950er-Jahren zeigt die Ausstellung auch den Aufstieg New Yorks zur inspirierenden Metropole der Moderne. Die Schau knüpft damit an die erfolgreiche Ausstellungstrilogie zur amerikanischen Malerei an. "Es existierte eine Gleichzeitigkeit von sozialen Interessen, formalen und abstrakten Überlegungen. Das Soziale war uns ebenso wichtig zu zeigen wie die ästhetische Entwicklung", so Kuratorin Dr. Ortrud Westheider.

In den Ausstellungsräumen soll der Besucher wie durch die Straßenschluchten der Metropole an großstädtischer Kulisse entlangflanieren. Die 170 gezeigten Werke stammen vor allem aus drei bedeutenden Sammlungen: dem Münchner Stadtmuseum, dem Whitney Museum of American Art und dem George Eastman House, ergänzt um Leihgaben aus dem Museum of Modern Art, New York, oder der Sammlung F. C. Gundlach.

Zwei besonders besessene Förderer der Fotografie waren Alfred Stieglitz (1864-1946) und Edward Steichen (1879-1973). Der Fotograf und Galerist Stieglitz, Kind deutschstämmiger Einwanderer, ging nach dem Studium des Ingenieurwesens in Berlin in die USA. 1902 rief er mit Frank Eugene und Edward Streichen die "Photo-Secession" ins Leben, nach eigenen Angaben "die radikalste und exklusivste Fotografenvereinigung überhaupt". Parallel gab Stieglitz die Zeitschrift "Camera Work" heraus, in der er seine avantgardistische Kunstauffassung verbreitete. In der 1905 gegründeten "Little Galleries of the Photo-Secession" stellte Stieglitz erstmals Foto- neben europäischer Avantgardekunst aus. Fotografien im Stil des Piktorialismus, der Nachahmung von Sichtweisen der Malerei an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, hingen neben impressionistischen Gemälden. Beide Genres ähnelten sich verblüffend in Motiv und Umsetzung. Steichen etwa lichtete sich in "Self-Portrait (1901) in weich gezeichneter Manier mit Palette und Pinsel ab.

Direkt auf der Straßenseite gegenüber den "Little Galleries" richtete Stieglitz die "Galerie 291" ein. Seine ersten Ausstellungen spiegelten die Tradition der James-McNeill-Whistler-Begeisterung des Gilded Age. So erinnerten etwa Gertrude Käsebiers Werke an Whistlers "Symphonie in White", das berühmteste Gemälde dieser Richtung. Der ausgebildete Maler Steichen war in Paris mit Gertrude Stein befreundet und präsentierte Künstler wie Matisse oder Picasso erstmals in New York.

Mit Steichen entzweite sich Stieglitz im Übergang zur Moderne über der Frage der kommerziellen Nutzung der Fotografie. Von Stieglitz' Anregungen aus nahm die Fotografie parallel zwei Entwicklungen in einem Nebeneinander von Abstraktion und Dokumentation. Im Unterschied zum Piktorialismus waren die Bilder nun gestochen scharf, häufig Nahaufnahmen oder Ausschnitte, die nicht im Labor nachbearbeitet wurden, wie etwa die Aufnahme des Stummfilmstars Gloria Swanson von Edward Steichen aus dem Jahre 1924 zeigt. "Auf der einen Seite will man das Künstlerische vom Amateurhaften absetzen, gleichzeitig gibt es einen neuen, sachlichen Blick auf soziale Begebenheiten", so Westheider.

Ging es Stieglitz immer um Fotografie als Kunstform und weniger um politische Aspekte, so ebnete er doch den Weg für die Anerkennung von Vertretern der social photography, die später in die Reportagefotografie der 1960er-Jahre münden sollte. Maßgeblicher Vertreter war Lewis Hine (1874-1940), der seit 1904 Einwanderer zwischen Hoffnung und Verzweiflung auf Ellis Island ablichtete und Kinderarbeit für das National Child Labor Committee dokumentierte. Soziale Wirklichkeit einzufangen war auch das Anliegen von Paul Strand (1890-1976) oder von Berenice Abbott (1898-1991) in ihrem Fotobuch "Changing New York" (1939).

Die soziale Dokumentation nutzte den Wahrheitsanspruch der Fotografie, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und Reformen anzumahnen. Früh verwiesen Abbotts Bilder auf die Risiken der Gewinnsucht des Großkapitals, auf die Schattenseiten der Dynamik der Moderne und die Zerstörung von Lebensräumen. Auch der Immigrant Andreas Feininger (1906-1999) dokumentierte New York als eine Art ewige, aber kühle, menschenfeindliche Stadt aus Stein und Stahl.

Stieglitz selbst hatte in den frühen 1890er-Jahren in den armen Gegenden Manhattans Obdachlose und Lumpensammler mit der Kamera eingefangen. Das hatte für ihn etwas "Wirkliches" gegenüber der engen bürgerlichen Welt. Mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Georgia O'Keeffe, lebte Stieglitz von 1925 an im 28. Stock des Shelton-Hotels. Von hier aus oder aus dem 70. Stockwerk des Gebäudes Ecke 53rd Street und Madison Avenue fotografierte er in den 1930er-Jahren nur noch die Spitzen der Hochhäuser. Charles Sheeler (1883-1965) und Paul Strand verewigten ihr Bild von den in den Himmel wachsenden Hochhäusern in dem avantgardistischen Kurzfilm "Manhatta", der neben Helen Levitts "The City" ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sein wird.

Das von dem umtriebigen Stieglitz begonnene Engagement für Fotografie als Kunstform setzte der New Yorker Julien Levy in seiner 1931 eröffneten Galerie an der Madison Avenue 602 fort. Levy sebst erstellte Photogramme im Stil von Man Rays Rayographien. Begegnungen mit Man Ray, Duchamp und Eugène Atget (1857-1927) in Paris inspirierten ihn, eine an surrealistischen Prinzipien orientierte Bildkunst zu verbreiten. Atget fotografierte Architektur und Straßenszenen, aber auch wie eigenwillige Collagen wirkende Schaufensterauslagen.

1932 gab es die erste Surrealismus-Ausstellung in den USA mit Gemälden von Picasso, Ernst, Dalí und Cocteau, aber auch Fotografien von Atget, Man Ray, Umbo und László Moholy-Nagy. In einem Hilferuf brachte Berenice Abbott Julien Levy dazu, den Nachlass des 1927 verstorbenen Atget nach New York zu holen. Lange Jahre sollte er unterschätzt bleiben. Erst 1969 rang sich das Museum of Modern Art dazu durch, die Arbeiten zu erwerben. Auch Abbott fotografierte, inspiriert von Atget, Schaufensterdekorationen.

Levy entdeckte unter anderem Walker Evans (1903-1975). Evans war mit seinem spröden, dokumentarischen Stil der begabteste und einflussreichste Vertreter der amerikanischen Fotografie. Seine Aufnahmen von kleinstädtischen Szenen oder Männern auf einer Bank in der Bronx am Sonntag waren stets zugleich bildhafte Botschaften. Monate vor dem Börsencrash 1929 transportierte er in "Political Poster, Massachusetts Village" seine Kritik an Präsident Herbert Hoover. In seinen "Subway Portraits" fing er mit versteckter Kamera unverfälscht wartende, müde Passanten ein. Helen Levitt (1913-2009) wiederum lichtete in ihrer Bordsteinfotografie das Elend von Kindern in Harlem ab.

In der Folge kam die kontrastbetonte straight photography der Moderne auf, die vor allem in dem 1936 gegründeten Magazin "Life" gedruckt wurde und eher der Fotoreportage verpflichtet war. Die Fotografie fing nahsichtig, ausschnitthaft und gestochen scharf die soziale Realität ein, die Folgen von Armut, Rassismus und mangelnder Sozialfürsorge. Arthur Fellig, genannt Weegee (1899-1968), hielt in seiner Fotografie mit einer Infrarotkamera Menschen in Theatersälen fest, die sich natürlich unbeobachtet beim Kulturgenuss wähnten. Er dokumentierte die Schattenseiten der Großstadt wie Armut und Rassismus. Als Sensationsreporter hielt er seine Kamera auch auf Mordopfer, Brände und andere kritische Situationen in der Lower East Side. Die deutsche Marion Palfi (1917-1978) schließlich arbeitete photoessayistisch und veröffentlichte erstmals in schwarzen Publikationen. So fotografierte sie etwa in beunruhigenen Porträts die weiße Bevölkerung eines Dorfes nach einem Lynchmord an einem Schwarzen.

Die Amerikaner bevorzugten die wirklichkeitsnahe straight photography. Der parallel aufkommende European Style des Neuen Sehens fand dagegen wenig Resonanz, weil die Arbeiten zwar virtuos, vielfach aber auch artifiziell wirkten. Daneben kamen ambitionierte experimentelle Ästhetiken, wie etwa die Bewegungs-fotografie, auf.

Harold Edgerton entwickelte die Hochgeschwindigkeitsfotografie. Barbara Morgan (1900-1992) fotografierte die Tänzerin Martha Graham mit Effekten der Doppelbelichtung. Der Charakter der Fotografie als Kunstwerk zeigte sich in Photogrammen, Montagen, Verfremdungen und Verzerrungen und einer Mehrsinnigkeit des Gesehenen. Man Ray experimentierte mit europäischen Kunststilen und gründete 1920 mit Marcel Duchamp und der Malerin Katherine Dreier den progressiven Kunstsalon Société Anonyme. Konzept war hier nicht Wiedergabe, sondern eine Steigerung der Abbildungsqualität der Wirklichkeit.

Vielfach kam es zu Wechselwirkungen mit abstrakt expressionistischer Malerei eines Jackson Pollock oder Willem de Kooning. Der gebürtige Münchner Josef Breitenbach (1896-1984) etwa experimentierte mit surrealistischer Collagetechnik und Farbverfremdung. Aaron Siskind (1903-1991) löste Architekturdetails und Oberflächenstrukturen aus ihrem Zusammenhang.

Im Jahre 1950 setzt die Ausstellung einen inhaltlichen Schlusspunkt. Die Fotografie hatte sich in diesen Jahrzehnten von den Zufallsaufnahmen der Amateure zur ambitionierten Foto-grafie von Künstlern entwickelt, die Durchsetzung des Mediums als eigenständige Kunstgattung war abgeschlossen.

"New York Photography 1890-1950. Von Stieglitz bis Man Ray" bis 2.9., Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, täglich 11.00-19.00, Do 11.00-21.00