Die Kunsthalle zeigt, wie Lewis Carrolls “Alice im Wunderland“ Künstler immer wieder inspiriert hat

Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898) war kein gewöhnlicher Mathematiker. Schon gar keiner, der dem Vor-urteil vom sturen, auf Logik und Vernunft bedachten Mathematikprofessor entsprach. In seiner Kindheit bewies Dodgson eine betont künstlerische Ader. Im Kreis der Familie gab er Hauszeitschriften heraus mit Abenteuergeschichten, Zeichnungen und Kunstbesprechungen. Anlässlich der Veröffentlichung eines Gedichtes nannte er sich Lewis Carroll und schrieb in der Folgezeit Bücher, die ihn schlagartig berühmt machten. Sein bis heute bekanntestes Werk "Alice im Wunderland", dem später "Alice hinter den Spiegeln" folgte, reifte schnell zum Klassiker. Noch heute, wie schon bei Erscheinen 1865, übt es eine starke Faszination aus.

Schriftsteller, Regisseure, vor allem aber bildende Künstler bedienen sich seiner Figuren und Szenen, als wären sie vertraute Motive einer alten Mythologie. In der Tat warf Carroll mit seiner Figur der Alice, dem weißen Kaninchen oder der Grinsekatze wesentliche Fragen über unser Verständnis von Zeit und Raum, Realität und Fiktion auf. Sie begründen die ungebrochene Alice-Aktualität, die nun auch Einzug in die Kunsthalle hält. Mit der Ausstellung "Alice im Wunderland der Kunst" präsentiert sie über 200 Werke aus 150 Jahren Kunstgeschichte. Neben Fotografien von Carroll, Dokumentationen von Film- und Theaterinszenierungen und frühen Illustrationen führt sie über Bilder des Surrealismus bis hin zu Werken zeitgenössischer Kunst.

Was Alices Abenteuer so ungeheuerlich macht, ist ihr Herausfallen aus der Zeit, die sich auf fast jede Gegenwart projizieren lässt. Hier bedient nicht, sondern spielt der Mathematiker Carroll mit Logik, Raum und Zeit, indem er ihre scheinbaren Gesetze außer Kraft setzt. Für die Kunst ein verlockendes Angebot. Diese "zerknüllten und dynamischen" Zeitformen, wie Christoph Benjamin Schulz aus dem Kuratorenteam sie nennt, inspirieren bis heute Künstler.

Das schließt stringent konzeptuelle Werke wie Joseph Kosuths "Clock (One and Five)" von 1965 ebenso wie Kiki Smiths Grafiken über das Thema der im eigenen Tränenmeer ertrinkenden Alice mit ein. Smith bezieht sich dabei ganz explizit auf Carrolls Lektüre, so wie auch Yayoi Kusama mit seinem "Alice in Wonderland Happening" den Bezug zu José de Creefts Alice-Skulptur im New Yorker Central Park eindeutig wählt. Vor allem in Werken der 1960er- und 1970er-Jahre, die an der scheinbar festen Ordnung von sprachlichen wie bildlichen Konventionen rütteln, taucht Alice häufig auf, ohne genannt zu werden. "Alice im Wunderland der Kunst" ist somit immer auch doppelte Zeitgeschichte, Reflexion über die Zeit im Allgemeinen ebenso wie Erkenntnishorizont einer historischen Zeit.

Auch in "Anschluss - Alice im Wunderland" (1941) von Oskar Kokoschka tritt Zeitgeschichte auf den Plan. Mitten im Kriegsgeschehen, begafft von einem Kleriker, einem Nazi und der Presse, allesamt blind, stumm und taub wie die drei Affen, steht Alice allein und nur mit Feigenblatt bedeckt in einem stacheldrahtumzäunten Areal. Im Rücken dieser germanisch anmutenden Blonden mit Zöpfen sitzen zwei Enthauptete, die Jungfrau mit Jesuskind. Ein Thron ist entmachtet, während in der Figur der Alice die Wahrheit ans Tageslicht kommt: der politische Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, auf den Kokoschka hier mit seiner kühlen Blonden aus dem Norden anspielt. "Gerade in den 1930er- und 1940er-Jahren", so Co-Kurator Christoph Benjamin Schulz, "wurde in politischen Karikaturen immer wieder auf die Figuren aus den Alice-Büchern zurückgriffen."

Carroll widmete sein Buch bekanntlich Alice Liddell, einer von drei Töchtern des Dekans von Christ Church, wo Carroll zunächst studierte, später lehrte. Doch so begeistert sich auch Kinder von den wundersamen Geschichten der Alice zeigten, eine reine Kinderlektüre waren sie nie. Die beiden Alice-Bücher, bemerkte Virginia Woolf, sind keine Kinderbücher, "sie sind Bücher, in denen wir Kinder werden". Kind sein heißt da eben auch, "alles als so fremd empfinden, dass nichts überraschend ist; herz- und rücksichtslos zu sein, aber auch so leidenschaftlich, dass ein Rüffel oder ein Schatten die Welt mit Schwermut verhängt". Vor allem die Surrealisten mit ihrer Suche nach dem Mysterium, ihren von Naturgesetzen und Einschränkungen menschlicher Vernunft entbundenen Bildern zeigen sich als wahre Alice-Fans.

Hinter dem Spiegel wie Alice bewegten auch sie sich auf der Ebene unbewusster Realitäten. Von Max Ernst stammen Gemälde wie "Alice en 41", später illustrierte Buchwerke und Malerbücher wie "La chasse au snark" (1950) oder "Lewis Carroll's Wunderhorn" (1970). In ihnen spiegeln sich ebenso Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Flucht des Surrealisten als auch seine Faszination für die Verrätselung von Frau und Wirklichkeit. Ebenso komplex und in ihren Anspielungen offen präsentieren sich Werke des spanischen Maestro Salvador Dalí. 1969 erscheint von ihm die zwölf Blätter umfassende Grafikfolge "Alice im Wunderland" mit dem Bild eines Mädchen mit Springseil. Das Motiv findet sich bereits früher in Dalís Werk, jedoch ohne Bezug zu Carrolls Lektüre im Titel.

Mit jüngeren Arbeiten, unter anderen von Stephan Balkenhol, Thorsten Brinkmann, Anna Gaskell, Dan Graham, Gary Hill, Stephan Huber, Pierre Huyghe, Pipilotti Rist, Kiki Smith und Diana Thater, reicht "Alice im Wunderland der Kunst" bis in die Gegenwart hinein. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Ausstellung aber zu Lebzeiten von Lewis Carroll, mit eigenen Fotografien oder von Margaret Cameron, Werken der Präraffaeliten wie John Everett Millais, handschriftlichen Notizen, Illustrationen oder frühen Merchandising-Objekten.

Karten- und Brettspiele oder Sammelfiguren setzten bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine wahre Alice-Industrie in Gang. "Alice ist der Harry Potter ihrer Zeit", kommentierte die Presse die Ausstellung anlässlich ihrer ersten Station in Liverpool. In Hamburg zeigt man nun eine "stark über-arbeitete Version", "ergänzt um eigene Bestände und weitere Leihgaben aus renommierten internationalen Museen und Privatsammlungen". Die Ausstellung wird unterstützt durch die Freunde der Kunsthalle und Malschule in der Kunsthalle e. V.

"Alice im Wunderland der Kunst" 22.6. bis 30.9., Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Di-So 10.00-18.00 Do 10.00-21.00