Mit der Internationalen Bauausstellung 2013 und der Internationalen Gartenschau verändert sich Wilhelmsburg rasant. Der Stadtteil ist im Umbruch. Das weckt Ängste, aber auch Hoffnungen bei den Einwohnern. Die Kirche begleitet sie auf dem Weg zum Quartier der Zukunft

Sie mag die Bezeichnung nicht: "IBA-Pastorin". Und "Blümchen-Pastorin" erst recht nicht. Wenn man Corinna Peters-Leimbach fragt, wie sie ihre Aufgabe beschreiben würde, dann sagt sie: "Ich bin das sozialkritische Auge bei der Entwicklung Wilhelmsburgs." Der Stadtteil, geprägt von Armut und sozialen Problemen, eine Insel zwischen Süder- und Norderelbe, sechs S-Bahn-Minuten von der Innenstadt entfernt, soll bis 2013 zu einem Musterfall von Stadt werden. Richten sollen das die Internationale Bauausstellung (IBA) und die Internationale Gartenschau (igs), für die die Hansestadt mehr als 170 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Es geht um neue Bauvorhaben, um Klimaschutz, um soziale und interkulturelle Projekte. Halb Wilhelmsburg soll neu arrangiert werden. Damit zur Ausstellung 2013 die Welt, die Stadt der Zukunft am Beispiel von Wilhelmsburg studieren kann.

"Wir als Kirche wollen die Menschen auf dem Weg mitnehmen und dafür sorgen, dass ihre Wünsche und Ideen berücksichtigt werden", sagt Corinna Peters-Leimbach. Dafür hat die Kirche ihr eigens eine Projektpfarrstelle in Wilhelmsburg eingerichtet. Als Vermittlerin zwischen Bürgern und Machern sitzt die Pastorin gemeinsam im Beteiligungsgremium der IBA/igs. "Ich bin auf der Seite der Menschen", sagt sie. "Offen für Neues, aber nicht kritiklos." Himmel-&-Elbe-Reporterin Hanna Kastendieck hat die Pastorin und ihren katholischen Kollegen Herbert Wolf, Pastoralreferent von St. Bonifatius mit St. Maximilian Kolbe, auf einer Tour durch das sich wandelnde Wilhelmsburg begleitet

Die Angst vor Abwanderung

Die Freunde und Klassenkameraden sind schon vor Jahrzehnten gegangen. Auch die Kinder wollten nicht in Wilhelmsburg bleiben. Und die Enkel gehen in anderen Stadtteilen zur Schule. Abgewandert sind sie. Weggezogen von der Elbinsel. Ilse-Marie, 71 und Hermann Keesenberg, 74, aber sind geblieben. Sie haben sich nicht vertreiben lassen. Nicht von der großen Flut 1962, als fast der gesamte Stadtteil zerstört wurde und über 300 Menschen starben. Sie sind auch nicht weggezogen, als in den Siebzigern die Hochhäuser der Siedlung Kirchdorf-Süd mit ihren mehrstöckigen Sozialwohnungen in die ländlich geprägte Umgebung einbrachen und für 6000 Menschen Platz auf engstem Raum schufen.

"Wer es sich leisten konnte, ist gegangen. Die meisten Besserverdienenden wohnen schon lange nicht mehr hier", sagt Ilse-Marie Keesenberg. Stattdessen kamen immer mehr Migranten. Heute sind von den 50 000 Bewohnern der Elbinsel 33 Prozent Ausländer. Zwölf Prozent der Bewohner sind arbeitslos. Jeder Vierte im Stadtteil lebt von Hartz IV. Auf den Plätzen wird Türkisch, Albanisch, Kroatisch, Persisch gesprochen. Und immer weniger Plattdeutsch, wie das früher in Wilhelmsburg üblich war. Die Keesenbergs pflegen diese Tradition bis heute. Das Ehepaar gehört zu der einen Seite. Zu denen, die sich auf die Vergangenheit fixieren und liebevoll die Restbestände geschichtlicher Größe pflegen. Man ist stolz auf bäuerliche Wurzeln und historische Baudenkmäler wie die Windmühle "Johanna". Die andere Seite, das sind die Macher der IBA und igs, die Wilhelmsburg ins Zentrum der hanseatischen Stadtentwicklung bugsieren wollen - rein geografisch liegt es da ja schon - genauso nah an der City wie das beliebte Ottensen.

Die Keesenbergs sehen die Entwicklungen mit gemischten Gefühlen. Als Chance einerseits für ein neues Wilhelmsburg, das mit modernen Wohnungen, guten Bildungsmöglichkeiten und einem direkten Barkassenanschluss an die Innenstadt auch attraktiv für junge Familien, Besserverdienende und Bildungsbürger werden könnte. Und als Gefahr andererseits, weil Wünsche, Bedenken und Vorschläge der Bürger vor Ort zu wenig in die Planungen mit einbezogen werden.

Um deren Bedürfnisse besser transportieren zu können, ist die Pastorin im Stadtteil gut vernetzt. So arbeitet sie eng mit Bettina Kiehn, Leiterin des Bürgerhauses Wilhelmsburg am Rathauswettern, zusammen.

30 Nationen auf einer Insel

Melih Dirik ist 61 Jahre alt. Er kommt aus der Türkei. Und er sagt: "Ich bin Wilhelmsburger". Seit 41 Jahren lebt er in Deutschland, arbeitet als Dolmetscher und hat gut zu tun. Denn in seiner Generation sprechen viele seiner Landsleute, die nach Deutschland eingewandert sind, nur wenig Deutsch. Sie haben die Sprache nie gelernt, weil sie nie dazu gezwungen wurden. In dem Stadteil haben sie ihre eigenen Viertel eingerichtet mit türkischen Gemüseläden, Teestuben und Gebetshäusern. 27 634 Menschen mit Migrationshintergrund zählt die Statistik in Wilhelmsburg, 41 Prozent der Schüler sind Ausländer. Sie wachsen in zwei Kulturen auf, sprechen zwei Sprachen und fühlen sich oft von der jeweils anderen Seite unverstanden. "Die Migranten brauchen Raum für ihre Kultur, aber sie müssen auch die deutsche Kultur akzeptieren", sagt Dirik, Sprecher der islamischen Gemeinden in Wilhelmsburg. Es gehe um interkulturelles Zusammenleben. Die IBA nennt das "Kosmopolis". "Ziel muss sein, das bunte Nebeneinander von Kulturen und Sprachen als Ressource für die Stadtteilentwicklung zu nutzen", sagt die Pastorin.

Stellvertretend für ein Projekt interkulturellen Zusammenlebens steht das "Veringeck" an der Ecke Veringstraße / Veringweg. Hier wird im Rahmen der IBA ein Seniorenheim gebaut, das vor allem türkische Senioren ansprechen soll. Es wird eine ambulante Wohn-Pflegegemeinschaft für an Demenz erkrankte Türken geben, einen Hamam und auf der Speisekarte Gerichte nach muslimischer Art.

Das Bildungsproblem

"Aufwerten ohne zu verdrängen", lautet ein Slogan der IBAnisten, die immer wieder betonen, dass im neuen Wilhelmsburg weiterhin Platz für das Alte sein wird. Es gehe nicht um Gentrifizierung, sondern darum, dass Wilhelmsburg wieder an die normale Entwicklung in Hamburg angekoppelt werden müsse. Fest steht auch, dass durch die IBA auch "Menschen aus der Mittelschicht" hinzugewonnen werden sollen. Und das wiederum geht nur, wenn das Umfeld stimmt. "Dazu gehören vor allem bessere Bildungschancen", sagt Corinna Peters-Leimbach. "Sonst laufen uns die Familien weg." Die Statistik belegt: Während in Othmarschen und im Stadtkern von Eimsbüttel mehr als zwei Drittel aller Schüler das Abitur machen, schafft in Wilhelmsburg die Hälfte der Schüler nicht einmal den Realschulabschluss. Jeder fünfte Schüler dort verlässt die Schule sogar ohne Schulabschluss. Zudem wandern immer mehr Schülerinnen und Schüler aus den belasteten Stadtteilen ab.

Um den Wegzug zu stoppen, haben die Wilhelmsburger 2008 selbst die Initiative ergriffen. Gemeinsam mit ein paar anderen Frauen im Stadtteil hatte Corinna Peters-Leimbach die Idee für eine evangelische Elbinselschule. Eine Ganztagsgrundschule mit jahrgangsübergreifenden Klassen, die reformpädagogisch konzipiert wurde und auf einem interreligiösen Fundament steht. Derzeit findet der Unterricht in Containern statt. Denn die Schule wird sich als Neubau in das IBA-Bildungszentrum "Tor zur Welt" einreihen. In der Krieterstraße entsteht eine lernende Stadt in der Stadt. Sie besteht aus fünf zentralen Grundbausteinen: dem School & Business Center, dem Umwelt & Science Center und einem Multifunktionsgebäude mit Veranstaltungssaal, Elterncafé und Elternschule.

Solche Projekte sind es, die Menschen wie Sigrun Mast bewogen haben, im Stadtteil zu bleiben. Sie ist 41 Jahre alt, Rechtsanwältin und Mutter von zwei Söhnen (vier und sechs). Als der Ältere 2010 eingeschult wurde, kam für die Eltern nur die Elbinselschule infrage. Für die Elternratsvorsitzende ist Bildung einer der wichtigsten IBA-Bausteine. Weil darauf alles fuße, das soziale Miteinander genauso wie die beruflichen Perspektiven und damit die Entwicklung der Gesellschaft. Wilhelmsburg braucht aufgrund seiner kulturellen Vielfalt viele Bildungskonzepte, sagt Peters-Leimbach. Und zwar nicht nur 2013, sondern dauerhaft.

Gemeinsame Sache

In Wilhelmsburg leben auf engstem Raum Christen, Hindus, Juden, Muslime und Buddhisten. Es gibt eine evangelisch-methodistische Kirche, vier evangelisch-lutherische und zwei römisch-katholische Kirchen, in denen die Gottesdienste gefeiert werden. Und es gibt sechs örtliche Moscheen, in denen sich die Muslime zum Gebet treffen. Jede Religion hat hier ihren Raum. Als Zeichen des friedlichen Miteinanders machen die fünf Weltreligionen im Rahmen der igs auf dem ehemaligen Friedhofsgelände an der Mengestraße gemeinsame Sache. Unter dem Motto "Welt der Religionen" gestaltet jede Glaubensrichtung einen eigenen, 700 Quadratmeter großen Garten. Mittelpunkt der Anlage ist eine Wasserschale aus dem Wasser symbolisch als das verbindende Element der fünf großen Weltreligionen entspringt. "Wir möchten mit der gemeinsamen Mitte deutlich machen, dass wir miteinander im Gespräch sind und auch gemeinsame Veranstaltungen durchführen möchten", sagt Pastoralreferent Wolf. Die katholische Kirche gestaltet mit der Nordelbischen Kirche gemeinsam einen ökumenischen christlichen Garten, der den Namen "Lebenspfad" tragen soll.

Erster Ansprechpartner für die Kirchen im Inselpark ist Claus Kriegs, seit Oktober 2003 für die igs tätig. Er hat ehrgeizige Ziele: Die igs soll der Insel im Jahr 2013 2,5 Millionen Besucher bescheren, bis zu 40 000 pro Tag. Und was haben die Wilhelmsburger davon? Gepflegte Parks, eine neue Grillwiese, Sportanlagen, schwärmt Kriegs. 2013 allerdings nur gegen Bezahlung. "Wir setzen uns dafür ein, dass Wilhelmsburger Familien keinen Eintritt zur Gartenschau zahlen müssen", sagt Wolf. Das müsse möglich gemacht werden in einem Stadtteil, in dem jedes vierte Kind unter der Armutsgrenze lebt.

An Bestehendes anknüpfen

Überhaupt muss sich noch vieles entwickeln in Wilhelmsburg, "einem Stadtteil, der so arm ist, dass viele Menschen oft nicht einmal wissen, was sie morgen essen sollen", sagt die Pastorin. Und auf den in zwei Jahren die ganze Welt blicken wird, um die Stadt der Zukunft zu studieren.

Noch ist davon wenig zu spüren. Der Kontrast zwischen vorhandener Armut und stadtplanerischen Visionen zeigt sich umso deutlicher, je mehr die Stadtentwicklungs-Projekte voranschreiten. Wo etwas Neues glänzt, sticht das Alte mehr ins Auge. Am St.-Bonifatius-Kirchplatz zum Beispiel. Auf der einen Seite verfallen die Gründerzeithäuser. Die Kneipe an der Ecke ist geschlossen. Die Schaufenster der Geschäfte sind leer. In den oberen Etagen hängen vergilbte Gardinen. Die Fenster sehen aus, als seien sie schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden.

Gegenüber dieser grauen Realität hat der Stadtumbau seine ersten Spuren hinterlassen. Für 1,15 Millionen Euro wurde dieser Kirchenvorplatz um die St.-Bonifatius-Kirche verschönert. Es gibt verschiedene Skulpturen aus Stein und lange, bequeme Sitzbänke aus Holz.

Karsten Behrend vom Kirchenvorstand glaubt, dass solche Investitionen langfristig den Stadtteil aufwerten. "Die Menschen sehen, dass in ihren Stadtteil investiert wird, dass er schöner wird." Das motiviere viele, sich hier zu engagieren. Und locke auch junge Menschen und Studenten ins Quartier.

Corinna Peters-Leimbach und Herbert Wolf wollen sich dafür einsetzen, dass Neues kommt und Altes erhalten bleibt. "Die IBA ist nur dann ein Erfolg, wenn sie es schafft, die drängenden Zukunftsprobleme auf der Insel zu lösen und ein neues Viertel zu schaffen, das an das Bestehende anknüpft", sagen sie. Ob das gelingen kann, bezweifeln viele Wilhelmsburger. Und je näher die IBA rückt, desto größer wird die Angst der Menschen vor Verdrängung. Dass ihr Stadtteil zum Szenestadtteil wird. Und sie nichts mehr sein werden als Fremde.