Die Dresdner Sinfoniker, überzeugte Neutöner, begeben sich auf die Spuren der traditionellen Türkei

Es ist heutzutage schon schwer genug, ein Sinfonieorchester am Laufen zu halten. Eines zu gründen ist Wahnsinn. Und kompletter Irrsinn, es programmatisch mit Uraufführungen, Ungehörtem und Unerhörtem zu füttern. Der Dresdner Perkussionist Markus Rindt tat das 1998 trotzdem. Und der schönste Irrsinn ist, dass sein "Baby" stetig besser und bekannter geworden ist. Mittlerweile spielen Musiker aus den besten europäischen Orchestern bei den Dresdner Neutönern und pflegen eine Kultur der Grenzüberschreitungen: Dass ein Orchester für zeitgenössische Musik Steve Reich, John Adams oder Gija Kantscheli spielt, versteht sich von selbst. Dass es aber zu einem Artrocker wie Frank Zappa oder einem Jazzer wie John McLaughlin hinüberlinst, ist schon seltener. Und wenn man dann Musik der Grobschlachtband Rammstein ins Sinfonische trägt oder mit den Pet Shop Boys einen neuen Soundtrack für den berühmten Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" kreiert, wird's schon sehr besonders. Da passt es ins Bild, dass das Orchester das weltweit erste Ferndirigat des im Londoner Verkehrslärm agierenden Dirigenten Michael Helmrath absolvierte oder sich in der Hochhaussinfonie über die Balkone eines DDR-Wohnblocks verteilt von einem Kran herab leiten ließ.

Im Festspielhaus Hellerau führten die Dresdner Sinfoniker 2010 Marc Sinans "Hasretim - eine anatolische Reise" auf, nun holen das Festival und die Reihe NDR das neue werk die Produktion nach Norddeutschland. Sinan, Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines Deutschen, studierte klassische Gitarre bei Eliot Fisk, hat mit vielen Orchestern alte und neue Literatur aufgeführt und eingespielt, sich aber stets auch im Crossover- und Jazzbereich betätigt, etwa mit der Pianistin Julia Hülsmann oder dem Perkussionisten Burhan Öcal.

Wenn Dirigent Andrea Molino das Solistenensemble der Dresdner und einige türkische Musiker mit der Musik und den Videoinstallationen Sinans auf eine Reise von Istanbul nach Osten führt, taucht das Publikum ein in eine ferne und zugleich nahe Welt. Wochenlang haben Rindt und Sinan im türkischen Hinterland mit der Videokamera Landschaften, Orte, Musiker, Sänger und Tänzer gebannt. Livemusik von Orchester und türkischen Volksmusikern verschmilzt mit den feldmusikalischen Klängen und den Bildern zu einem Strom an Eindrücken. Vor dem inneren Auge des Hörers breitet sich gleichsam ein Reisetagebuch aus, dessen Titel "Hasretim" (türkisch für "meine Sehnsucht") mehr als sinnig ist: Imaginär isst das Publikum abends in einem kleinen Dorf Köfte mit dessen Bewohnern, durchmisst in mythischer Nacht vergessen geglaubte Landschaften und erreicht mit der Morgendämmerung die Küste des Schwarzen Meeres.

Die Kampnagelfabrik in Hamburg (30.7.) und das Kieler Schloss (31.7.) verwandeln sich unter diesen magischen Klängen und Bildern. Wie einst Jason und die Argonauten sich auf ihre "Nykeia", ihre Nachtmeerfahrt, auf der Suche nach dem Goldenen Vlies begaben und damit zugleich ihre eigenen Seelen durchfuhren, so fährt das Publikum durch mehr als nur eine Landschaft. Es ist zugleich eine Fahrt durch unsere eigenen Sehnsüchte nach einer anderen, archaisch anmutenden Welt.