Die Fotokünstlerin Roni Horn forscht für ihre Arbeiten auf Island nach einer Utopie des Ich

Was den einen die Südsee war, ist für Roni Horn der hohe Norden. Seit Jahrzehnten schon bereist die US-Amerikanerin Island, geologische Manifestation von Schöpfung, Elementarkräften und Urgewalten, mythisch aufgeladen und immer ein wenig abseits der Zivilisation. Hier trifft die Künstlerin auf eine weite und sich weitestgehend selbst überlassene Natur. Hier begegnet sie Menschen, ihrer Kultur und alltäglichen Ritualen. Die Eindrücke verarbeitet die ehemalige Documenta-Teilnehmerin in Zeichnungen, Skulpturen, Büchern und Fotografien.

Anlässlich der 5. Phototriennale hat die Kunsthalle sie nach Hamburg eingeladen. In der Galerie der Gegenwart konzentriert sich alles auf ihr fotografisches Oeuvre. Über 100 Arbeiten und eine Präsentation ihrer Bücher zeigen eine Auswahl ihres Werkes der vergangenen 20 Jahre. Dem spektakulären Island mit seinen Feuer spuckenden Vulkanen und meterhohen Geysirfontänen zeigt sich das Werk Roni Horns allerdings betont abgewandt.

Es sind die Details, stillen Orte, unscheinbaren Mineralien oder vorbeiziehenden Wolken, die ihr ins Visier kommen: Lavasteine, die sie im Maßstab eins zu eins in ihren Büchern abbildet, die natürlichen und die gebauten Pools, in denen sich die Isländer ihrem Baderitual und der inneren Reinigung hingeben, bemooste Steine, grundige Quellen, kochende Ursuppe, Brutstätten in Felswänden oder Eisformationen.

Nicht Hochglanz-Erlebnis-Fotografie, sondern archivarisches Interesse macht sich in diesen Aufnahmen breit. Ihren Arbeiten liegt ein eher filmisches Zeitinteresse zugrunde. Keine der im Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart gehängten Fotografien setzt sich aus einer einzigen Aufnahme zusammen. Mindestens zwei, oft Gruppen von Fotografien erst ergeben ihr endgültiges Bild.

Wer als Künstler ehemals die Südsee aufsuchte, unternahm dies nicht grundlos. Bei Roni Horn verhält es sich nicht anders. Ihre Arbeit fügt sich nahtlos ein in das große Thema aktueller westlicher Gegenwartskunst: der Suche und der Frage nach der Identität. Schon Paul Gauguin bereiste die Insel Tahiti, um herauszufinden "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?" Wenn Roni Horn Island aufsucht, jene Insel, die aufgrund ihrer geologischen Jugend als naturwissenschaftliches Exempel für die Entstehung des Lebens auf Erden gilt, dann geht sie hier auch der Frage nach der Identität nach. Ihre insgesamt neun Buchbände unter dem Titel "To Place" nennt sie auch ihre "Enzyklopädie der Identitäten".

Wer also sind wir? Ihre bildlichen Antworten findet Roni Horn in der Zeit, die die Wesen und Dinge prägen. Zum Beispiel in jenen dampfenden heißen Quellen, die in Island wie geologische Vulvae die Erdkruste übersäen. Von ein und derselben Quelle nimmt sie zeitlich nur kurz versetzt zwei Aufnahmen und stellt sie nebeneinander. Zweimal der gleiche Ort, aber nicht mehr derselbe. Ein paar Blasen mehr, eine leicht versetzte Dampfwolke, ein anderes Schäumen an den Rändern ergeben zwei verschiedene Gesichter. Nichts bleibt, wie es ist, alles aber bleibt erhalten, ließe sich da im Sinne eines philosophischen Kernsatzes kommentieren.

Um die Unterschiede zu bemerken, verlangt es hin und wieder kriminalistisches Gespür. Das Gesicht eines Jungen unter der roten Pudelmütze gleicht dem Gesicht eines Jungen unter der roten Pudelmütze gleich neben diesem. Erst nach längerem Hinsehen zeigt sich in seinen Augen, dass die Zeit eine leichte Veränderung bewirkt hat. Oft sind es minimale Unterschiede in solchen Bildpaaren oder Bildreihungen, die die Veränderung eines identischen Gesichts signalisieren. Vor allem mit ihrer Arbeit "You are the weather" (1994-96), den fast endlosen Aneinanderreihungen des Gesichts einer jungen Isländerin beim Bade in heißen Quellen, artikuliert Roni Horn die fließende Identität als Abfolge zahlreicher Momentaufnahmen.

Umgekehrt demonstriert die Künstlerin an ihrem eigenen Gesicht die markanten und auffälligen Unterschiede, die zumindestens optisch aus einem mehrere Wesen schaffen. Insgesamt 30 Aufnahmen ihrer Person, frühe Kinderbilder, Fotos aus Jugend und Erwachsenenalter, sie selbst mit kurzer, braver oder wilder Frisur zusammen mit ihrem aktuellen Konterfei als 55-jährige multiplizieren ihr Wesen zu zahlreichen Einzelpersonen. Zu 15 Paaren zusammengestellt kennt dieses Selbstporträt seine eigene Leserichtung. Es beginnt mit einem sehr ungleichen Paar ihrer selbst, um in einem fast identischen "Zwillingspaar" zu enden; "a.k.a", so der Titel dieses Selbstporträts, summiert sich damit zu einem Bild mehrfacher Entzweiungen.

Dem Prinzip der bildlichen Gegenüberstellung entspricht in Roni Horns Arbeit das Prinzip des Zyklus. In der regelmäßigen Wiederkehr desselben bleibt die Identität als Ganzes bewahrt. Mögen sich die einzelnen, individuellen Bilder noch so sehr unterscheiden, zusammen ergeben sie einen Kreislauf identischen Lebens, in den sich zu jeder Zeit, sprich mit jedem beliebigen Bild einsteigen lässt. In "Pi" (1998) setzt sich dieser Kreis aus Bildern Islands, seinen kulturellen wie natürlichen Räumen, seinen Bewohnern, deren Vorlieben in der Moderne (einer TV-Serie) wie ihrer Pflege der Tradition (ein Daunenfeder-Ritual) zusammen.

Ganz auf das Wasser, seine wechselnden "Launen" und "Gesichter" setzt "Some Thames" (2000), dessen Titel phonetisch ebenso an "sames" und "themes" erinnert und mit ihren Bedeutungen spielt. Zahlreiche Aufnahmen der Themse in London, uferlose Ausschnitte ihrer permanent wechselnden Oberfläche fügen sich zu einem besonderen Wasserkreislauf. Stumpf oder glänzend, gräulich kalt oder herbstlich rot, aufgewühlt oder still zerfließend zeigt er die unterschiedlichsten Facetten emotionaler Beweggründe.

Es sind die Geschichten eines Flusses und seiner Menschen, die sich hier als Teil des Zyklus des Lebens zu erkennen geben. Immer wieder bedient sich Roni Horn durch mythisches Denken vertrauter Muster um sich ihrem großen Thema der Identität zu nähern. Neben der Form des Zyklus fällt vor allem die Gegenüberstellung der Unterschiede auf. Beide integriert sie um die Jahrtausendwende in der zweiteiligen Arbeit "Clowd and Cloun" mit einer blauen und grauen Version, die sich konfrontativ gegenüberstehen.

Porträts der verzerrten und stark verschwommenen Mimik eines Clowns werden hier von Aufnahmen eines klaren blauen bzw. unscharfen grauen Himmels unterbrochen. Die menschlichen Stimmungen zwischen Lachen und tiefem Schmerz stehen sich in den Farben wie meteorologisches Hoch und Tief gegenüber. Wechselwirkungen natürlich nicht ausgeschlossen. Die Ausstellung wird ermöglicht durch Ernst & Young und die Freunde der Kunsthalle.

Roni Horn. Photographien bis 14.8., Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, Di-So 10.00-18.00, Do 10.00-21.00