Das Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme entwickelt Perspektiven für eine Erinnerungskultur in der Zukunft

Ein Buch brachte den Wendepunkt. Als Yael Fried elf Jahre alt war, schenkte ihr Großmutter Hédi den Überlebensbericht "Nachschlag für eine Gestorbene - ein Leben bis Auschwitz + Ein Leben danach". Seitdem sprach die in Stockholm lebende Familie etwas offener über "Omas Vergangenheit". Frieds Erlebnisbericht bewirkte im zur Kriegszeit "neutralen" Land eine Debatte über Schwedens Haltung zu den Nazis und Anfänge einer kritischen Erinnerungskultur. Die 85-jährige rüstige, pädagogisch tätige alte Dame kam mit Schwester Livia und den Enkeln Yael und Samuel zur Tagung "Überlebende und ihre Kinder im Gespräch" ins Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

In einer Veranstaltungsreihe zum 65. Jahrestag von Kriegsende und Befreiung organisierte das Zentrum neben den feierlichen Gedenktagen, Seminaren und einer Skandinavien-Konferenz auch das dreitägige Treffen mit anderen ehemaligen Häftlingen des KZ Neuengamme. Sie waren aus England, Schweden, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Russland, der Ukraine sowie aus Kanada, den USA und Australien gekommen. Trotz schmerzlicher Erinnerungen sprechen sie offen über die Aufnahme als Flüchtlinge im fremden Land, den Umgang mit ihnen und der Geschichte der NS-Verfolgung. Aber auch über das schwere Erbe für die eigenen Familien.

Hédi Fried erzählt beim Podiumsgespräch, sie wollte ihre drei Söhne nicht belasten, sagt: "Sie sollten nach dem frühen Verlust ihres Vaters lernen, ihr eigenes Leben zu führen. Ich habe ihnen mein Buch gegeben, bin aber nicht sicher, ob sie es gelesen haben. Denn wir haben nie darüber diskutiert." Eine für die Kinder Überlebender charakteristische Haltung: Zu nahe geht ihnen das Leid der Eltern. Enkelin Yael lernte dagegen früh und unverkrampft damit umzugehen. Die Großmutter hatte sie zu einem Gesprächskreis Überlebender mitgenommen, welche die ausgebildete Psychologin seit 1984 leitet. "Damals waren es einfach alte Leute für mich", berichtet die 29-jährige Judaistik-Studentin. "Ich habe nicht viel verstanden, aber jetzt kann ich frei mit ihnen reden, arbeite am Jüdischen Museum und beschäftigte mich im Studium mit der Problematik, wie und in welchen Formen die Geschichte des Holocausts nach dem Tode der Zeitzeugen weitergeführt werden könnte."

Für Oliver von Wrochem, den Leiter des Studienzentrums, ebenfalls ein zentrales Thema. Die internationalen Tagungen mit Zeitzeugen sollen helfen, Perspektiven für die Erinnerungskultur in Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. Er wisse auch, dass es für Opfer nicht einfach sei, öffentlich über Dinge zu reden, die sie nie oder nur selten aussprechen, sagt er zu Beginn der Gespräche. "Ihre Berichte bilden jedoch eine wichtige Grundlage für unsere forschende und vor allem pädagogische Arbeit zu dn NS-Verbrechen und die Weitergabe der Erinnerung in Europa und weltweit an die nachfolgenden Generationen." Die langwierige Geschichte der KZ-Gedenkstätte Neuengamme habe bewiesen, wie schwer sich die deutsche Gesellschaft und die Stadt Hamburg getan hätten, ein würdiges Gedenken an die Opfer der NS-Verfolgung zu ermöglichen.

In Großbritannien sei dies ähnlich, doch unter anderen Vorzeichen verlaufen, sagt Kitty Hart-Moxon: "Die Sieger-Nation über die Nazis hat es einfach nicht für nötig gehalten, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen." Die aus Polen stammende Engländerin, Jahrgang 1926, erlebte mit wenigen Ausnahmen nur Ablehnung und hat nach 15 Jahren Schweigen ebenfalls ein Buch veröffentlicht. "I Am Alive" katapultierte sie aus der Isolation ihres Exils in Birmingham, führte zu öffentlicher Aufmerksamkeit und Diskussionen über Judenvernichtung und die britischen Hilfstransporte für Kinder. Die energische zierliche Dame schrieb weitere Bücher ("Wo die Hoffnung erfriert"), drehte Filme, darunter die Dokumentation "Return To Auschwitz", und engagiert sich beim 1988 gegründeten "Holocaust Educational Trust", der die Information und Erziehung von Jugendlichen, Studenten und Lehrern an Schulen, Universitäten und in den Kommunen fördert und organisiert.

"Die Erziehung beginnt bereits auf dem Spielplatz, sonst verpasst man den Zug", sagt Hart-Moxon. Sie hat mit ihren Söhnen David und Peter über ihre Erlebnisse gesprochen. "Mit 13 Jahren schenkte mir Mutter eine persönliche Ausgabe ihres Buches", sagt Peter Charles Hart. "Wir waren aber schon vertraut mit der Geschichte. Sie hat mit uns über 'positive Seiten' des Lagerlebens geredet, über Freundschaft und gegenseitige Hilfe, auch über den Mangel an Essen." Hédi Fried sagt: "Uns bleibt nur die Möglichkeit, unsere Geschichten zu erzählen. Die uns glauben, dass sie wahr sind, haben wir erreicht. Denen, die schon eine Gehirnwäsche hinter sich haben, können wir auch nicht helfen." Sie war sich mit Kitty Hart-Moxon in ihren Beobachtungen einig, dass durch das Erstarken der Rechtsparteien in Europa der Neonazismus und generell Fremdenfeindlichkeit begünstigt würden. "Nur Erziehung hilft. Kinder sind mit Empathie geboren, verlieren sie aber später, wenn die Eltern oder Lehrer versagen."

Um gegen Hass, Rassismus und Intoleranz in der Gesellschaft zu wirken, veranstaltet das Studienzentrum bis 2011/2012 das besondere Projekt "Menschenrechtsbildung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter staatlicher Institutionen an den Gedenkstätten des NS-Unrechts". Im von der Stiftung "Erinnerung Verantwortung Zukunft" geförderten Programm gibt es berufsspezifische Seminare zur Frage, wie sich Geschichtsvermittlung mit Menschenrechtsbildung verbinden lässt. Oliver von Wrochem erweiterte zudem das Angebot in der Erwachsenenbildung durch themenbezogene Kurse und Tagungen für Lehrer, Polizisten, Soldaten und Verwaltungsangestellte. Die forschende, wissenschaftliche und pädagogische Arbeit am Studienzentrum hat letztlich das ferne, noch lange nicht erreichte Ziel: die Geschichte des Nationalsozialismus als Zivilisationsbruch im Bildungskanon zu bewahren und im Bewusstsein nicht nur in der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands, sondern auch über die Grenzen hinaus in Europa und weltweit zu verankern.

KZ-Gedenkstätte Neuengamme/ Studienzentrum Jean-Dolidier-Weg 75, T. 428 13 15 15,

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