Hamburger Abendblatt:

Frau Bürgermeisterin, seit 20 Jahren wird St. Georgen wieder aufgebaut. Wie genau entstand die Idee dazu?

Rosemarie Wilcken:

Niemand konnte so eine Idee haben. St. Georgen war eine Ruine und deshalb sind wir in den Aufbau hineingewachsen. Nach dem Einsturz des Nordgiebels am 25. Januar 1990 war klar, dass hier unaufschiebbare Sicherungsarbeiten vorgenommen werden mussten. Der Anstoß für den Wiederaufbau kam von Professor Kiesow von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Daraus ist in der Aufbruchstimmung der Wendezeit eine emotionale Woge entstanden. Es haben sich schnell Unterstützer aus ganz Deutschland gefunden. Man muss heute klar sagen, ohne das Unglück mit mehreren Verletzten wäre St. Georgen nicht wieder aufgebaut worden. Das war der Impuls. Auch für mich. Ich sage immer, die Georgenkirche hat auf den Zeitpunkt gewartet, um sich im Vertrauen auf Rettung fallen zu lassen. Es war eine einmalige Situation, die wir einfach nutzen mussten.

Haben Sie damals an die Vision eines Wiederaufbaus geglaubt?

Nein. Ich bin ein praktisch denkender Mensch. Da war ein Giebel eingestürzt, und ich war die Bürgermeisterin. Also habe ich überlegt, was ist zu tun, damit nichts mehr runterkommt? Die Entscheidung, wie es weitergehen soll, ist mir dann aber abgenommen worden, als der Denkmalschutz mit Professor Kiesow sich der Sache angenommen hat. Ich habe dann einfach funktioniert, nachdem der Auftrag sozusagen von oben auf mich gekommen ist.

Wie haben die Wismarer damals reagiert?

Es gab verschiedene Phasen. Einerseits ist es ja auch zur Wende gekommen, weil die Menschen in der damaligen DDR nicht wollten, dass unsere Städte weiter kaputtgehen. Andererseits hatten die Leute so viele drängende Probleme, dass sie kein Verständnis dafür aufgebracht haben, dass ein Kirchenaufbau zu den vordringlichen Aufgaben gehört. Sie mussten das Gefühl gewinnen, dass die Stadt die wichtigen Aufgaben vernachlässigt. Man kann nicht sagen, dass es eine Gegenbewegung gab. Eher viel unterschwelliges Unverständnis. Das änderte sich, als klar wurde, dass der Wiederaufbau etwas Zusätzliches war. Inzwischen sind die Wismarer stolz auf ihre Kirche.

Welche Probleme gab es in der 20-jährigen Bauphase?

Am meisten hat uns die Statik beschäftigt. Wir haben uns immer wieder gefragt, was stürzt noch ein. Dann ging es darum, die Bevölkerung mitzunehmen. Ja, und die Verhandlungen mit den Kirchengemeinden mussten auch geführt werden. In Wismar gehören die Kirchen der Stadt. Deshalb müssen Nutzungsverträge abgeschlossen werden. Wir verhandeln seit mehr als einem Jahr darüber, allen gerecht zu werden. Bislang haben wir noch kein Ergebnis erzielt.

Was genau sieht das Nutzungskonzept für St. Georgen vor?

St. Georgen ist keine Kirche im ursprünglichen Sinn, sondern eine Kulturkirche mit gottesdienstlicher Teilnutzung. Es werden zum Beispiel Konzerte stattfinden, Ausstellungen, Kongresse, Lesungen, Versammlungen, Banketts. Möglich ist alles, was die Würde des Raums nicht verletzt. In einem Ausschlusskatalog ist festgelegt, was auf gar keinen Fall geht, beispielsweise Discoabende, Dessous-Schauen, pseudoreligiöse Veranstaltungen oder Kampfsportturniere.

Was war Ihr schönstes Erlebnis in St. Georgen?

Ich habe inzwischen unzählige besondere Augenblicke in der Kirche verbracht, unter anderem bei einer Lesung mit dem Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aber am liebsten mag ich es, wenn die Kirche wirklich ganz leer ist. Dann spürt man das erhabene Raumgefühl ganz besonders. Diese Durchblicke, das Licht. Das erfüllt mich mit Stolz und Freude.

Welche Bedeutung hat St. Georgen für Sie?

Es ist so etwas wie meine Lebensaufgabe geworden. Eigentlich wollte ich schon Mitte der 90er-Jahre in meinem Amt als Bürgermeisterin aufhören. Da hat meine Familie protestiert und mir klargemacht, dass ich keine andere Position übernehmen kann, solange die Kirche nicht wieder aufgebaut ist.

Und welche Bedeutung hat St. Georgen für die Stadt Wismar?

Die Symbolkraft dieses Bauwerks ist enorm. Es ist eine Art Synonym für den Aufbau nach 1990. Wir sind alle an dem Aufbau gewachsen. St. Georgen hat nationale Bedeutung. Es ist die Dresdner Frauenkirche des Nordens.