Nach dem Wiederaufbau wird die Georgenkirche, wichtiges Zeugnis der Backsteingotik, nun eingeweiht

Im April 1945 wurde die Georgenkirche zu Wismar bei einem Bombenangriff schwer beschädigt. Bis zur politischen Wende in der DDR war die Ruine dem Verfall preisgegeben, obwohl Bürger die Sicherung des Gebäudes forderten. 1990 begann auf Initiative der Deutschen Stiftung Denkmalschutz der Wiederaufbau der Kirche, die zu den bedeutendsten Denkmälern der nordischen Backsteingotik zählt. Zwei Jahrzehnte lang wurde daran unter aktiver Anteilnahme der Wismarer Bürgerschaft und Menschen aus ganz Deutschland gearbeitet. Am 8. Mai 2010 wird die Georgenkirche offiziell ihrer Bestimmung als Veranstaltungsraum und Gotteshaus übergeben.

Kein anderes Baudenkmal im norddeutschen Raum strahlt so viel Symbolkraft aus wie die Georgenkirche in Wismar. Entstanden ist sie aus der Gottesfurcht und dem Bürgerstolz der mittelalterlichen Hansestädte. Von Lübeck ausgehend wollte man - angeblich, um deren Bewohner vom Heidentum zu bekehren - den Handel in die slawischen Ostgebiete tragen.

Die Kirche gilt bis in die Gegenwart als Symbol für ideelle Vorgaben zu oft kaum verhülltem Machtstreben. Der aus dem Handel der Hanse entstandene Reichtum schuf die wirtschaftliche Grundlage für die Entstehung der Backsteinkathedralen an der Ostsee, einer aus europäischen Wurzeln gewachsenen Sonderform monumentaler Backsteinkirchen zwischen Lübeck und Wolgast mit Ablegern in Lüneburg, Riga und Malmö.

Aus Oberitalien kam die Technik des Ziegelbrennens, aus Frankreich zunächst die neue Raumform der Hallenkirche mit drei gleich hohen Schiffen, dann die Rückkehr zur hierarchisch-hoheitsvollen Basilika, aus England die reichen Stern- und Netzgewölbe. Insofern ist die Backsteinbaukunst an der Ostseeküste und mit ihr auch die Georgenkirche ein Symbol für das Ziel eines vereinten Europas, das aber bei aller gemeinsamen Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik nicht das Ende nationaler Besonderheiten der einzelnen Kulturlandschaften sein darf. Der Bau der Georgenkirche verdankt sich wohl den Fürsten von Mecklenburg, die anstelle des späteren Fürstenhofs unmittelbar neben deren Ostchor eine Burg mit einer Kapelle besaßen, worauf das Patrozinium hinweist. Denn Georg, der ritterliche Streiter für das Christentum, ist auch häufig der Schutzheilige von Burgkapellen.

Erst als die Fürsten von den immer reicher und selbstbewusster werdenden Kaufleuten aus der Stadt hinausgedrängt wurden und schließlich ihre Residenz nach Schwerin verlegten, wurde das Gotteshaus zur Pfarrkirche der Neustadt, der letzten Stadterweiterung aus der Zeit um 1300.

Das Gotteshaus gilt als Symbol für den Aufstieg der Hansestädte

Damit ist diese Kirche das Symbol für den Aufstieg der Hansestädte und den schwindenden Einfluss der Territorialherren, die ihren enormen Finanzbedarf nur durch Darlehen von ihren Städten decken konnten. Da Christen Zinsgeschäfte verboten waren, machten die Städte stattdessen die Überlassung von Privilegien zur Bedingung, von Marktrecht und Mauerrecht über das Recht zur Erhebung von Steuern bis zu niederer oder gar hoher Gerichtsbarkeit.

Als in Folge der Verlagerung der Handelswege durch die Entdeckung des Seewegs nach Indien alle nicht am Atlantik liegenden Handelsstädte verarmten und der Dreißigjährige Krieg mit seinen Brandschatzungen noch das Seinige dazu tat, erstarkten die Fürsten im Zeitalter des Absolutismus erneut und kehrten in die Georgenkirche mit einer eigenen Fürstenempore zurück. Auch verhinderten sie mit dem Neubau des Fürstenhofes die geplante Kirchenerweiterung nach Osten. Dem Auf und Ab im Machtverhältnis zwischen Landesherren und Bürgerstädten entspricht auch die Baugeschichte der Georgenkirche. Dem Beispiel der Marienkirche in Lübeck folgend, übernahm St. Georgen um 1260/70 zunächst die bürgerliche Hallenkirche als neue, aus Südfrankreich stammende Raumform.

Die Raumform der Hallenkirche wurde aus Südfrankreich übernommen

Als jedoch die lübischen Kaufleute bei ihren regelmäßigen Fahrten zu den flandrischen Städten mit einem noch älteren Reichtum feststellten, dass man dort unter dem Einfluss nordfranzösischer Kathedralen nur altehrwürdige Basiliken mit Umgangschören und Kapellenkranz baute, kehrten sie zu dieser, eigentlich Kathedralen, Stifts- und Klosterkirchen vorbehaltenen Raumform zurück.

Ein neuer Baustil breitet sich in den Hansestädten aus

Dies gilt jedoch nur für die großen Hansestädte zwischen Lübeck im Osten und Wolgast im Westen sowie den Ablegern Lüneburg, Riga und Mälmö.

Es wurde in Mitgliedsstädten der Hanse zur Mode, die Hallenkirchen zu Basiliken umzubauen, zum Beispiel in Teterow, in Stralsund (St. Jakobi) sowie bei St. Marien und St. Katharinen in Salzwedel. Dies geschah, indem man die Mittelschiffwände so weit erhöhte, dass über den Scheidbögen zu den Seitenschiffen Fenster möglich wurden, aus denen das für Basiliken typische, von oben strahlende mystische Licht fällt.

Jedoch mehr noch als der Bürgerstolz war die Gottesfurcht vor der ewigen Verdammnis die Ursache für die Flut von zahlreichen Kirchenneubauten der Gotik. Da die großen Sünder jener Zeit wussten, dass sie große Sünder sind, waren sie bereit, hohe Geldbußen zu zahlen, anstatt die zeitraubende Pilgerreise nach Santiago di Compostella, Rom oder gar in das Heilige Land anzutreten. Sie hatten auch ein Unrechtsbewusstsein, was leider den großen Sündern unserer Zeit fehlt. Sonst bekämen wir noch mehr Bußgelder von Richtern und Staatsanwälten zugewiesen, die wir zurzeit dankbar entgegennehmen würden.

Orientierung an Jerusalem, der schönsten Stadt der Erde

Schon das irdische Jerusalem galt als die schönste Stadt der Erde, das Himmlische sollte nach den Schilderungen in Kapitel 21, Vers 10 der Offenbarung des Johannes noch tausendmal schöner sein. Er gibt die Höhe der Mauern mit 144 des damaligen Längenmaßes an. Um den Menschen Verheißung nach einem sündigen, aber bußfertigen Leben zu vermitteln, sollte die gotische Kathedrale optisch die Schwerkraft durch die Aufgliederung der dicken Mauern in Bündelsysteme und mit der Ableitung der Schubkräfte über Strebebögen nach außen aufheben.

Es gelang, eine Gewölbehöhe von 144 Fuß zu erreichen, und zwar bei der Kathedrale von Beauvais, die Mauern von 48,5 Meter Höhe bekam. Mit der Form der Basilika erreichte man größere Höhen als mit der Hallenkirche.

Diese Kirche ist ein Symbol für Aufstieg und Niedergang

Als man um das Jahr 1290 beschloss, bei der Georgenkirche den Chor der bestehenden Hallenkirche durch einen größeren basilikalen zu ersetzen, erreichte man schon eine beachtliche Höhe, die aber weit von jener des um 1440 begonnenen spätgotischen Neubaus des Langhauses entfernt ist. Der Sprung von 25 Metern im Chor auf eine Scheitelhöhe von 35 Meter im Langhaus ist innen und außen unübersehbar und verschafft dem Bauwerk die prägende Monumentalität. Da die Höhe von Beauvais mit 48,05 Metern nicht überall zu erreichen war, versuchte man das subjektive Höhengefühl durch die Veränderung des Verhältnisses von Breite und Höhe des Mittelschiffes zu steigern. Es beträgt bei der Georgenkirche 1 zu 3,3 und übertrifft die Proportionen von Beauvais, weil in Wismar die Mittelschiffbreite nur 10,55 Meter, in Beauvais dagegen 15,5 Meter beträgt. Damit ist das Verhältnis zwischen der Breite und der Höhe "nur" 1,3.

Die Georgenkirche empfinden Betrachter als überaus steil

Nach dem Kölner Dom mit 1 zu 3,5 und der Nikolaikirche in Wismar mit ebenfalls 1 zu 3,5 gehört das Langhaus der Georgenkirche zusammen mit der Kathedrale von Le Mans zu den als besonders steil empfundenen mittelalterlichen Kirchenbauten. Ihr heutiger, wiedererstandener Raum wirkt wegen des Verzichts auf spätere feste Einbauten wie Gestühl und Emporen in seiner fast überirdischen Monumentalität tatsächlich wie ein Werk aus einer Höheren Welt, wie ein Symbol die Verheißung eines Lebens nach dem Tode im himmlischen Jerusalem. Auch mit ihrem weiteren Schicksal wird sie zum Symbol für den Wechsel von Aufstieg und Niedergang. Denn aufgrund der Abnahme des Handels am Ende des Mittelalters erhielt sie nicht die geplante Höhe des Westturmes und die Anpassung des Chores an die Höhe des Langhauses, wie man außen an den stehen gebliebenen Verzahnungen der Obergadenwände ablesen kann.

Zerstörung im Zweiten Weltkrieg

Durch die weitgehende Zerstörung von Dächern und Gewölben bei einem Luftangriff der Alliierten am 14./15.April 1945 - also wenige Wochen vor Kriegsschluss am 8.Mai, als der Ausgang des Krieg längst entschieden war - wurde sie zum Symbol für die Sinnlosigkeit von Kriegen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde die Georgenkirche im Zuge des jetzt bis auf den Turm vollendeten Wiederaufbaus zum Symbol für Opferbereitschaft. Ihre Fertigstellung ist das schönste Geschenk zum 25. Geburtstag.

Professor Gottfried Kiesow ist Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Stiftung Denkmalschutz