Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich - bedingt durch die Teilung Deutschlands - ein Nord-Süd-Gefälle. Die wirtschaftlichen und kulturellen Kraftzentren verschoben sich nach Süd-Westen. Von hier gingen die wichtigsten Impulse aus. Alles drängte nach dem Süden; häufig über die deutschen Grenzen hinaus, dort wo Licht und Sonne das Leben leichter machten. Die Menschen liebten die romanischen Dome am Rhein und das bayerische Barock mit der Pracht seiner Kirchen und Klöster. Der kulturelle Reichtum des Nordens trat in den Hintergrund und geriet immer mehr in Vergessenheit.

Die Wiedervereinigung öffnete nicht nur Grenzen, sondern veränderte auch Perspektiven. Schlagartig trat der Reichtum der Backsteingotik in Erscheinung, die sich über Jahrhunderte entlang der Ostseeküste entwickelt hatte. Sie war das Ergebnis einer Wanderungsbewegung von Siedlern, die sich im 12. und 13. Jahrhundert von Süden und Westen vollzog und entlang der Ostseeküste eine einzigartige Kulturlandschaft schuf. Der Aufschwung der Hanse ermöglichte den Bau von Kirchen, Bürgerhäusern und Speichern, in dem sich Reichtum, Selbstbewusstsein und Macht eines aufstrebenden Bürgertums ausdrückte.

Als Relikte einer antagonistisch empfundenen Zeit wurden sie in der DDR missachtet und sollten einer sozialistischen Stadtkultur weichen. Soweit nicht zerbombt, verfielen sie. Der Zahn der Zeit richtete mehr Schaden an als der Krieg. Die Wiedervereinigung kam auch hier zum richtigen Zeitpunkt, und Denkmalschützer aus ganz Deutschland retteten, was noch zu retten war; allen voran Gottfried Kiesow, der die "Wege zur Backsteingotik" eröffnete.

Eines der Glanzstücke der Backsteingotik ist die Georgenkirche in Wismar, die in vielerlei Hinsicht mit dem Schicksal der Frauenkirche in Dresden vergleichbar ist. In der Nacht vom 14./15. April 1945 wurde das gotische Viertel um St. Marien und St. Georgen total zerstört. Erst 1989 wurde durch die Berichterstattung in den westlichen Medien (allen voran das ZDF) einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, welche Schätze einer einzigartigen Baukunst es entlang der Ostseeküste in Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald zu entdecken und vor dem Verfall zu retten galt.

Mehr als 15 Jahre lang wurde in Wismar an "Deutschlands größter Kirchenruine" gearbeitet. Wie die Frauenkirche war St. Georgen sowohl ein Symbol der Zerstörung durch Menschen, aber auch ein Hoffnungszeichen für eine friedliche Zukunft. Während Dresden sehr schnell nationale und internationale Hilfe mobilisieren konnte, musste in Wismar mit langem Atem gesammelt, gebettelt und gebaut werden. In beiden Städten waren es jedoch ungebrochener Bürgersinn und wachsende Solidarität, die zum Erfolg führten.

Wenn am 8. Mai 2010 mit einem Festakt die Georgenkirche eröffnet wird, dann erstrahlt ein gotischer Kirchenbau in neuem Glanz, der durch seine Architektur, die Besonderheit der verwendeten Materialien und seine neuerliche Einfügung in ein homogenes, städtebauliches Ensemble Zeugnis ablegt von der Vitalität und Schönheit mittelalterlicher Städte des Nordens. Damals wie heute mussten die Städte um ihre Existenz kämpfen. Sie konnten es umso erfolgreicher, je größer die Identifikation der Bürger mit den Wurzeln ihrer Geschichte und den Zeugnissen ihrer gemeinsamen Kultur war.

Prof. Dieter Stolte ist Vorstandsmitglied der Axel-Springer-Stiftung