Viele Unfallzeugen erleiden ein Trauma. Es besteht die Gefahr lebenslanger Schäden. Spezialisten bieten Hilfe an

Es kann jedem passieren, jederzeit: Als Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls muss man plötzlich Hilfe leisten. Es gibt Schwerverletzte, in Autowracks eingeklemmte Menschen, vielleicht sogar Tote. Weil Ersthelfer am Unfallort oft eine zuvor nicht erlebte Hilflosigkeit erfahren und Dinge sehen, die traumatische Schäden verursachen können, droht ein Schock. "Die meisten Menschen, die schlimme Ereignisse erleben, verarbeiten sie relativ gut", sagt Hanjo von Wietersheim von der Notfallseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Es sei "normal", wenn Unfallzeugen bis zu zwei Monate lang Flashbacks und Albträume haben. Geist und Seele bräuchten Zeit, um die Erlebnisse einzuordnen. Den Anteil jener, die psychologische Hilfe benötigen, schätzt er auf bis zu vier Prozent. Prof. Wilfried Echterhoff, Leiter des Instituts für Psychologische Unfallnachsorge (ipu) in Köln, spricht dagegen von 30 Prozent.

"Es können lebenslange Schäden eintreten: massive Ängste, dauerhafte Arbeitsunfähigkeit, Depressionen und Hilflosigkeitsgefühle", sagt Echterhoff. Das ipu betreut rund 50 Menschen im Jahr, die nach schrecklichen Unfallerlebnissen Hilfe suchen. "Wir haben ein bundesweites Therapeutennetz."

Die Bezahlung der psychologischen Hilfe ist nicht eindeutig geregelt, sie hängt vom jeweiligen Fall ab. "Bei Unfällen in der Öffentlichkeit können die Kosten von der Unfallkasse des jeweiligen Bundeslandes übernommen werden. Auch der Verursacher muss Kosten übernehmen, zum Beispiel über die Haftpflichtversicherung. Ansonsten sollten die Krankenkassen bezahlen, die machen aber oft Schwierigkeiten", so Echterhoff.

Der Versuch, stark und tapfer zu sein, ist nicht bei allen Unfallzeugen von Erfolg gekrönt. Langfristige Anzeichen für ein Trauma können Albträume, Schlafstörungen, häufige ungewollte Erinnerungen an das Ereignis oder auch eine Zunahme des Tabak-, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsums sein. Außerdem kann die Arbeitsleistung nachlassen.

Hilfe für Betroffene gibt es bei der Notfallseelsorge. Bayern war das erste Bundesland, das sie im Jahr 1990 einrichtete. Gründer ist der frühere Polizist und Rettungsassistent von Wietersheim. "Die Notfallseelsorge in Bayern verzeichnet rund 6000 Einsätze im Jahr, pro Einsatz werden zwei bis drei Menschen vor Ort intensiv betreut", berichtet er. Aber auch später können sich Betroffene an die Organisation wenden.

Dass Augenzeugen schwerer Unfälle meist möglichst schnell vom Ort des Geschehens wegkommen wollen, berichtet auch Michael Steil, Bundeskoordinator für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) des Deutschen Roten Kreuzes. "Ich habe oft von Menschen gehört, die wegfuhren und 20 Minuten später zitternd anhalten mussten. Erst da haben sie realisiert, was ihnen widerfahren ist."

Oft können Unfallzeugen den Verletzten nur Mut zusprechen, bis der Rettungsdienst eintrifft - oder der Verletzte stirbt. Das kann sich laut Steil langfristig belastend auswirken, die Helfer machen sich Vorwürfe. Er empfiehlt, in den Tagen und Wochen nach dem Erlebten gezielt Ablenkung zu suchen. "Es ist wichtig, sich etwas Gutes zu tun, wenn man das Bedürfnis danach hat." Auch körperliche Betätigung könne helfen: "Wer unter Schlaflosigkeit leidet, sollte viel Sport machen." Wem das alles nicht hilft, der sollte sich zwecks Aufarbeitung in eine Therapie begeben. Wie gut und schnell ein Mensch die Situation nach einem Unfallerlebnis bewältigt, hängt laut Steil auch von dessen sozialem Umfeld ab.

"Immer weniger Menschen sind von sich aus in der Lage, mit solchen Situationen umzugehen. Das Leben besteht für viele nur aus Spaß und Karrieremachen, viele haben sich nie mit dem Tod beschäftigt. Und die sozialen Netzwerke sind nicht mehr so engmaschig wie früher, es gibt viele Menschen, die ihren Alltag ohne Gemeinschaft anderer verbringen." So können Schwerverletzte oder Tote lange im Gedächtnis bleiben und die Unfallbilder ein Trauma auslösen. Das Risiko psychischer Folgen können Erste-Hilfe-Kenntnisse verringern. Sie geben Sicherheit, nach bestem Wissen zu handeln.