Die Briten konnten sich bei ihrer neuen Luxuslimousine aus dem BMW-Regal bedienen. Und schufen damit das dynamischste Modell aller Zeiten, meint Jürgen Zöllter.

Endlich darf der Besitzer selbst hinters Lenkrad! Keineswegs im Vorgriff auf knappe Kassen der Wirtschaftsunternehmen, sondern eher aus dem Kalkül heraus, neue Kunden zu gewinnen, baut Rolls-Royce mit dem Ghost erstmals eine Limousine für den Selbstfahrer. Der britische Hersteller von luxuriösen Chauffeurswagen und automobilem Mobiliar für gekrönte Häupter büßte 2009 rund 40 Prozent Umsatz ein. Da kommt es den Briten gelegen, mit dem Griff in die Regale des BMW-Mutterkonzerns ein neues Modell für eine breitere Kundschaft anbieten zu können. Angepeilt sind rund 1000 Einheiten im Jahr.

Doch Bescheidenheit ist relativ: Mit 5,40 Meter Länge, 1,95 Meter Breite und 1,55 Meter Höhe überragt der Ghost die Business-Limousinen von Audi, BMW und Mercedes deutlich. Und auch sein Preis von 253 470 Euro liegt jenseits der Geschäftswagen-Etats des Mittelstands. Der Ghost ist der kleinste Rolls-Royce seit dem Silver Dawn von 1949, und Firmenchef Tom Purves weiß: "80 Prozent unserer Kunden haben niemals zuvor einen Rolls-Royce gefahren." Er spricht von Leuten, denen ein Mercedes S63 AMG zu gewöhnlich ist und die von der einstigen Schwestermarke Bentley mit dem Continental Flying Spur erfolgreich "angefüttert" wurden.

Wie in anderen Rolls-Royce fühlt man sich auch im Ghost erhaben über die Gewöhnlichkeit des Alltagsverkehrs. Doch nicht eine erhöhte Sitzposition trägt dazu bei, wie im Flaggschiff Phantom. Im Ghost sitzt man tiefer, etwa auf dem Niveau eines 7er BMW. Es ist die lange Motorhaube, die Distanz zu allem aufbaut, was sich voraus abspielt. Und es ist die geradezu sensationelle Ruhe, mit der man durch Landschaft und Stadtverkehr gleitet, entkoppelt von allem, was die Sinnlichkeit des Augenblicks stört. Verantwortlich dafür zeichnet das exzellent abgestimmte adaptive Luftfederfahrwerk mit Wankausgleich. Auf vom Fahrer beeinflussbare Sport-Kennungen wird zu Recht verzichtet. Auch der mit 3,30 Meter sehr lange Radstand, seine Mehrlenker-Achsen aus leichtem Aluminium, die extrem steife Stahlkonstruktion des Fahrzeugs sowie Details, wie die Mehrfachverglasung der Fenster, die aufwendige Motorkapselung und Möblierung mit hochflorigen Teppichen, massivem Holz und satt gepolsterten Ledersesseln tragen zur außerordentlichen Reife des stattlichen Gefährts bei.

Doch der rollende Brite ist keine Meditationszelle, sondern der fahraktivste Rolls-Royce aller Zeiten. Angetrieben vom 6,6-Liter-Biturbo-V12-Aggregat aus Münchner Fertigung werden kaum vernehmbar 570 PS an die Hinterachse geschickt. Sie erlauben, aus dem Stand in 4,9 Sekunden auf 100 km/h zu sprinten. Die Endgeschwindigkeit wird bei (abgeregelten) 250 km/h erreicht. Bis dahin hängt der Biturbo-Motor erstaunlich spontan am Gas, die acht Fahrstufen der ZF-Automatik wechseln nahezu unmerklich. Allein die oft leuchtende Warnlampe der elektronisch geregelten Traktionskontrolle zeigt, welche Mühe die 19-Zoll-Räder bei Sprints in den Gängen zwei und drei haben, um 780 Newtonmeter Drehmoment auf feuchter Straße in Vortrieb zu verwandeln. Zu spüren ist die ungeheure Wucht bei Trockenheit, mit der schon ab 1500 Touren angeschoben wird - trotz des Leergewichts von mindestens 2470 Kilo. In Kurven allerdings wirft man diesen Wagen nur ungern. Erstens, weil es für einen Rolls-Royce unschicklich ist, und zweitens, weil der komfortablen Lenkung die dafür nötige Präzision fehlt.

Neben dem unvergleichlichen Fahrkomfort beeindruckt die Innenausstattung. Wie im großen Bruder Phantom erfolgt der Zugang durch gegenläufig öffnende Türen, sogenannte "Coach-Doors". Vom Ledersofa im Fond lassen sie sich per Knopfdruck schließen. Chefdesigner Ian Cameron hat für die Gestaltung von Armaturentafel und Mittelkonsole auf aristokratischen Prunk verzichtet, die stilistische Nähe der Schalter und Hebel zum Flaggschiff aber sorgsam gepflegt. Von den skulpturhaft hervorgehobenen Anzeigeinstrumenten geht eine gewisse Feierlichkeit aus. Anstelle des Drehzahlmessers ist ein Powermeter zur Überwachung der Leistungsreserven installiert. Der "kleine" Rolls-Royce verfügt über das komplette Sortiment moderner BMW-Assistenzsysteme von der adaptiven Geschwindigkeitsregelanlage übers iDrive bis zum Headup-Display.

Nur rund 20 Prozent der Wertschöpfung gehe auf BMW-Gleichteile zurück, versucht der deutsche Entwicklungschef Helmut Riedl den Verdacht zu entkräften, der Ghost sei nicht mehr als ein opulent eingekleideter 7er BMW. Da er am Produktionsort im englischen Goodwood lediglich endmontiert wird, ist hier größtenteils aufwendige und zeit-intensive Handfertigung angesagt. So wächst ein Ghost in langen 20 Tagen heran (Standzeiten nicht eingerechnet), während das BMW-Spitzenmodell mit Hilfe von Robotern in rund 50 Stunden entsteht.