Berlin. Eine neue Studie alarmiert: In wenigen Jahren könnte der Golfstrom abreißen. Die Ergebnisse stoßen bei Experten auf heftige Kritik.

Ohne den Golfstrom würde in Berlin oder Hamburg ein sibirisches Klima herrschen. Doch versiegt die mächtige Meeresströmung schon in wenigen Jahren? Eine neue Klimastudie dänischer Forscher, die dieser Redaktion vorliegt, kommt zu dem Ergebnis: Die gigantische „Wärmepumpe Europas“ könnte als Folge des Klimawandels eher als befürchtet bereits Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren, möglicherweise schon deutlich früher. In ersten Reaktionen bewerten Wissenschaftler die Methodik der Studie als „solide“, sehen aber einige Schlussfolgerungen als unhaltbar an.

Dänische Forscher: Golfstrom kann ab 2025 zusammenbrechen

Die Studie, die in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Nature Communications“ erschienen ist, stützt sich auf die Wassertemperaturen in Teilen des Golfstromsystems zwischen 1870 und 2020. In den Daten suchten die Autoren, die dänischen Forscher Peter Ditlevsen und Susanne Ditlevsen von der Universität Kopenhagen, nach Frühwarnsignalen. Sie sollen Aufschluss über den möglichen Zeitpunkt eines Kollapses des Golfstroms geben. Das Ergebnis ist schockierend.

Aus der Analyse leiten die Forscher ab, dass der Golfstrom jederzeit ab dem Jahr 2025 zusammenbrechen könne und dies so gut wie sicher bis 2095 passieren werde. Sie schränken jedoch ein, dass dieser Kollaps sich auf Teile des Strömungssystems beschränken könnte und möglicherweise nicht den gesamten Golfstrom betreffen würde.

Krasser Widerspruch zum Bericht des Weltklimarats IPCC

Die Ergebnisse der Studie widersprechen damit fundamental dem aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC. Demnach werde sich die Meeresströmung mit fortschreitendem Klimawandel zwar erheblich abschwächen, jedoch nicht im 21. Jahrhundert abreißen. Der IPCC warnt jedoch, dass ein Kollaps des Golfstroms verheerende weltweite Auswirkungen nach sich ziehen würde. Mehrere Klimastudien sehen als Folge eine massive Abkühlung in Europa. Im begleitenden Pressetext der neuen Studie heißt es, dass der Zusammenbruch des Golfstroms in der nördlichen Hemisphäre innerhalb eines Jahrzehnts zu Temperaturschwankungen von zehn bis 15 Grad führen könne.

Unter Forschenden stieß die Studie auf teils heftige Kritik, insbesondere die Nennung eines möglichen Zeitpunktes des Kollapses. Für Prof. Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sind die Unsicherheiten „so groß, dass man auf Grundlage der Analyse historischer Daten keine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens treffen kann.“ Bekannt sei, dass der Golfstrom an Stabilität verloren habe. „Alles darüber hinaus halte ich ehrlich gesagt für Spekulation“, so Boers.

Der Golfstrom als gigantische Umwälzpumpe: Das Strömungssystem transportiert warmes Wasser (rosa) in den Norden, kaltes Wasser (hellblau) strömt nach Süden.
Der Golfstrom als gigantische Umwälzpumpe: Das Strömungssystem transportiert warmes Wasser (rosa) in den Norden, kaltes Wasser (hellblau) strömt nach Süden. © DKRZ | Deutsches Klimarechenzentrum

Wissenschaftler haben Zweifel an Schlussfolgerungen

Prof. Dr. Jochem Marotzke, Direktor der Forschungsabteilung Ozean im Erdsystem im Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, hat überhaupt erhebliche Zweifel, Temperaturmessungen als Datengrundlage stellvertretend für den Golfstrom zu nutzen. „Die aktuelle Arbeit liefert keinen Grund, an der Bewertung des 6. IPCC-Sachstandsberichts irgendetwas zu ändern.“

Anders sieht es Prof. Stefan Rahmstorf, Leiter des Forschungsbereiches Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die neue Studie verstärke die Gewissheit, dass der Kipppunkt des Golfstroms „viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten“, so Rahmstorf. „Wie immer in der Wissenschaft liefert eine einzelne Studie nur begrenzte Beweise, aber wenn mehrere Ansätze zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen, muss dies sehr ernst genommen werden – vor allem, wenn es sich um ein Risiko handelt, das wir mit 99,9-prozentiger Sicherheit ausschließen wollen. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt nun, dass wir nicht einmal ausschließen können, dass wir bereits in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten einen Kipppunkt überschreiten.

Forscher debattieren seit Jahren über Kollaps des Golfstroms

Die wissenschaftliche Debatte über ein mögliches Abreißen des Golfstroms und die mutmaßlichen Folgen weltweit dauert seit nunmehr zwei Jahrzehnten an. Das Szenario gilt als einer der klassischen Kipppunkte im Klimasystem. Die Ursache sehen Forscher wie PIK-Experte Stefan Rahmstorf in der fortschreitenden Erderwärmung.

Der Klimawandel sorge dafür, dass es über dem Nordatlantik und den benachbarten Landmassen mehr regnet. So gelange mehr Süßwasser in den Ozean, auch das schmelzende Eis der Arktis verdünne das Wasser des Nordatlantiks. Als Folge verlangsame sich das globale Förderband „Der Salzgehalt sinkt, das Meerwasser kann nicht mehr so leicht in die Tiefe gelangen, und deswegen strömt auch weniger von Süden nach“, so Rahmstorf. Über das Ausmaß dieser Abschwächung jedoch herrscht unter Wissenschaftlern immer noch große Unsicherheit. Noch ist es nicht möglich, mit Klimamodellen die künftige Entwicklung der Golfstromzirkulation genau vorherzusagen.

Fernheizung Nordeuropas und Pfeiler des Erdsystems

Der Golfstrom ist nicht irgendeine Strömung, sondern eine der wichtigsten Komponenten des Erdsystems. Dieses System von Meeresströmungen transportiert 30-mal so viel Wasser wie in allen Flüssen der Erde zusammen. Die Wärmeleistung umfasst so viel Kilowatt, wie theoretisch zwei Millionen Atomkraftwerke zusammen produzieren könnten.

Sein wichtigstes Merkmal aber: Die Strömung ist eine gigantische Umwälzpumpe, eine Fernheizung für Nordeuropa, die uns ein mildes Klima beschert. Wie ein globales Förderband transportiert sie warmes Wasser aus dem subtropischen Süden bis an die Küsten Europas und Grönlands.

Golfstrom lässt Palmen an Irlands Küste wachsen

Ohne Golfstrom wären unsere Winter so hart wie in Sibirien. Elbmündung und Nordsee wären monatelang vereist. In ihnen würden Eisberge und Eisbären schwimmen, so wie in der Hudson Bay in Kanada, die auf dem gleichen Breitengrad liegt, aber eben nicht in den Genuss der Zentralheizung kommt. Dank des Golfstroms wachsen an Irlands Südwestküste Palmen und dürfen sich die Norweger an der Westküste über Erdbeeren und eisfreie Häfen freuen.