Berlin. Wohin steuert Wikipedia? Der neue Wikimedia-Chef über freies Wissen, die männlich dominierte Wikipedia, Querdenker – und Boris Becker.

Schnell etwas nachschlagen oder sich gründlich in ein Thema einarbeiten: Früher hat man dafür das dicke Lexikon aus dem Schrank geholt – heute kann man am Handy oder PC in Sekundenschnelle die Artikel in der Wikipedia aufrufen. Die Online-Enzyklopädie wird seit nunmehr 20 Jahren von Ehrenamtlichen befüllt und bearbeitet.

Allein in der deutschsprachigen Ausgabe sind es einige Tausend Autorinnen und Autoren. Im Hintergrund unterstützt ihre Arbeit der gemeinnützige Verein Wikimedia Deutschland. Seit Juni leitet dort Christian Humborg die Geschicke als neuer Vorstand. Im Interview spricht der 48-Jährige über seine Ziele, mehr weiblichen Einfluss in der Wikipedia und seinen Lieblingsartikel im Online-Lexikon.

Herr Humborg, welche Themen wollen Sie mit Wikimedia besonders vorantreiben?

Christian Humborg: Wir sind in einem Jahr, wo Donald Trump abgewählt wurde. Und wir stehen vor Bundestagswahlen, wo wir erleben, dass das Ausmaß an Desinformation eher steigt als sinkt. Beim Umgang mit dieser für manche immer noch neuen digitalen Welt im Alltag können wir nach wie vor einen großen Beitrag leisten. In den aktuellen Zeiten geht es mir vor allem darum, wie wir die offene, digitale Gesellschaft stärken. Und zwar jenseits von Kommerzialisierung und jenseits von Überwachung, die wir am Beispiel der Pegasus-Enthüllungen auch gerade erneut sehen. Für den eigentlich tollen Grundgedanken des offenen, digitalen Netzes würde ich gern die Menschen wieder begeistern. Und da sind die von uns unterstützten Projekte natürlich ganz wunderbare Beispiele.

Wie wollen Sie das konkret umsetzen?

Humborg: Sehr wichtig ist bei uns das Thema „Öffentliches Geld – öffentliches Gut“. Immer dann, wenn die öffentliche Hand etwas bezahlt, womit Inhalte und Informationen erstellt werden, setzen wir uns dafür ein, dass das dann auch frei verfügbar und nutzbar ist. Beispiel ÖPNV: Jeder Verkehrsverbund baut seine eigene App. Wie toll wäre es, wenn wir eine für alle offene App in Deutschland hätten und nicht über Drittanbieter. Oder beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk: ARD und ZDF haben so viele tolle Bildungsinhalte, die als Ergänzung für den Unterricht hervorragend geeignet wären. Aber obwohl mit öffentlichen Mitteln finanziert, können sie oft aus urheberrechtlichen Gründen nicht richtig verwendet werden.

Bei der digitalen Bildung sind fast alle Industrieländer weiter, bemängeln Sie. Woran liegt das und wo würden Sie beim Thema Schul-Unterricht ansetzen?

Humborg: Es gibt nicht den einen Hebel. Erst mal müssen die Voraussetzungen bei der Infrastruktur da sein. Da ist in der Corona-Pandemie einiges passiert, aber immer noch nicht genug. Es kann nicht sein, dass die Lehrerinnen und Lehrer das Internet einrichten müssen. Da muss es professionelle Unterstützung geben, etwa einen IT-Hausmeister für jede Schule oder ein Serviceangebot der Kommune. Darin muss man investieren.

Das zweite ist die digitale Medienkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer: Einige machen das sehr gern, andere tun sich schwerer – genau wie im Rest der Gesellschaft. Letztere muss man dazu befähigen und Anreize schaffen. Und die Frage: Wie können neue Lehrformen aussehen?

Brauchen wir vielleicht künftig eine klügere Mischung von online und offline lernen? Wie funktioniert auch Lernen online anders als in einem Klassenraum? In der Pandemie wurden oft einfach die Aufgabenzettel eingescannt den Eltern nach Hause geschickt das reicht natürlich nicht. Dort muss man nur in andere Länder gucken, wo schon mehr passiert ist.

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Wie kann man hier auch Schulkinder aus sozial schwachen Familien mitnehmen? Der Großteil der Kinder hat laut Studien hier nicht mal einen eigenen Laptop oder ein Tablet für die Schule.

Humborg: Es kann nicht sein, dass man sagt: Kaufen Sie sich bitte ein iPad, und einige können das dann gar nicht. Oder die Kinder müssen Aufgaben dann auf dem kleinen Smartphone lösen. Beim Hartz-4-Satz ist nur 1,61 Euro im Monat für Bildung vorgesehen. Dafür kann ich mir im Monat sicher kein Smartphone, geschweige denn ein iPad kaufen, damit ich überhaupt diese Voraussetzungen habe. Davor steht sogar noch die Frage: Habe ich überhaupt ein ausreichend stabiles Netz, damit ich an einer Videokonferenz mit meiner Klasse teilnehmen kann? Habe ich genug Bandbreite, damit ich überhaupt gesehen werde? Wenn wir uns die Glasfasernetz-Dichte in Deutschland angucken, korrespondiert das wahrscheinlich mit der Situation, wie wir auch im Bildungssektor dastehen. Und natürlich ist es wichtig, dass gerade Kinder trotz Homeschooling dauerhaft auch physisch zusammenkommen. Aber solche Phasen wie zuletzt muss man überbrücken können.

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Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist abhängig von Spenden und Tausenden Ehrenamtlichen, die Artikel schreiben und pflegen. Hat das Corona-Jahr dieses Engagement ausgebremst oder noch befeuert?

Humborg: Zumindest im ersten Lockdown hatten wir beim Bearbeiten von Wikipedia-Artikeln einen Anstieg. Wahrscheinlich, weil die Leute auch mehr zu Hause saßen. Eines der ganz wenigen Beispiele, wo diese Pandemie vielleicht wenigstens mal etwas Gutes hatte (lacht). Inzwischen scheint sich dieser Effekt aber auch wieder zu legen.

Neben dem bekannten Online-Lexikon Wikipedia betriebt Wikimedia als gemeinnütziger Verein über ein Dutzend weiterer Projekte.
Neben dem bekannten Online-Lexikon Wikipedia betriebt Wikimedia als gemeinnütziger Verein über ein Dutzend weiterer Projekte. © wikimedia commons | Wikimedia Commons

Die kürzlich zurückgetretene Chefin der Wikimedia-Stiftung in den USA, Katherine Maher, hat versucht, mehr weibliche Autoren zu gewinnen. Hat auch die deutsche Wikipedia Nachholbedarf beim Einfluss von Frauen, aber auch von Minderheiten?

Humborg: Absolut, wir halten das für sehr, sehr wichtig. Auch wenn man in der Wikipedia unter Pseudonym oder anonym editieren kann: Wo wir es wissen, sind es unter den Autorinnen und Autoren deutlich mehr Männer als Frauen. Es gibt auch schon einige tolle Projekte, die versuchen, das auszugleichen. Aber es hat auch mit der Frage zu tun: Wer hat Zeit in einer Gesellschaft? Wir glauben, dass eher „zeitreiche“ Menschen, wie wir es nennen, die Wikipedia editieren. In der Gesellschaft ist es momentan so, dass Kinderbetreuung und -erziehung eher bei Frauen liegen. Wenn ich also von Zeitreichtum spreche, sind das dann eher Ältere und eher Männer als Jüngere und Frauen, die vielleicht Job und Kindererziehung unter einen Hut bringen müssen. Damit müssen wir uns genauso auseinandersetzen wie viele andere ehrenamtliche Organisationen. Aber uns ist das ganz wichtig. Wir wollen, dass die Wikipedia am Ende die Gesellschaft repräsentiert.

Wie wirkt sich das Ungleichgewicht auf die Inhalte aus?

Humborg: Bei den Biografien haben wir mehr Artikel über Männer als über Frauen. Andererseits sieht das Verhältnis in den Archiven der Bibliotheken genauso aus. Die Wikipedia verzerrt hier nichts. Im Gegenteil: Wir glauben, dass wir im Verhältnis besser dastehen. Das Grundpro­blem ändert sich aber nicht von heute auf morgen.

Wo sehen Sie einen Hebel, um den Anteil von Frauen unter den ehrenamtlichen Autoren zu erhöhen?

Humborg: Es gibt schon verschiedene Initiativen von weiblichen Ehrenamtlichen innerhalb der Wikimedia. Eine Hypothese ist, dass es manchen Frauen mehr Freude bereitet, mit anderen Frauen zusammen zu editieren. Manches entsteht auch ohne unser Zutun der Wikimedia: Gerade erst hat beispielsweise das Land Berlin einen sogenannten „Edit-a-thon“ gestartet, wo man gemeinsam über einen längeren Zeitraum in der Wikipedia etwas editiert über Wissenschaftlerinnen in Berlin. Wir veranstalten ähnliche Aktionen auch schon seit Jahren, freuen uns aber, wenn andere das aufgreifen.

Wie sieht es mit Wikipedia-Beiträgen aus, die sich mit Minderheiten in unserer Gesellschaft beschäftigen?

Humborg: In der Tat ist die Frage ein Thema, dass in der Wikipedia auch die Geschichte derer repräsentiert ist, die nicht an der Macht waren. Denn Geschichte ist natürlich oft die Geschichtsschreibung der Mächtigen. Das ist aber von vornherein als einer der Gründungsgedanken der Wikipedia verwurzelt: Man wollte eben nicht, dass nur die Mächtigen das Wissen vorschreiben. Aber auch das ist nicht leicht, weil allein schon das Prinzip der Enzyklopädie eher akademisch geprägt ist. Eine Alternative ist unsere große Wissensdatenbank Wikidata. Dort liegen strukturierte Daten vor, die für alle da sind und von allen editiert werden können. Das ist vor allem wichtig, wenn Sprachassistenten und künstliche Intelligenz ebenfalls mit Daten von Wikidata arbeiten. Wenn Sie zu Hause mit Siri oder mit Alexa sprechen, dann greifen die oft auf die öffentlich verfügbaren Daten von Wikidata zu. Das Projekt wurde erst vor weniger als zehn Jahren gestartet. Diese Wissensdatenbank konnte man von vornherein so aufstellen, dass es nicht nur die Geschichte der Mächtigen reproduziert.

Wikimedias Ziel ist freier Zugang zu Wissen. Wie können heute so gegensätzliche Informationsblasen entstehen wie gerade bei der Querdenker-Bewegung?

Humborg: Als Informationsblase sehe ich es nicht an, denn diese Blase ist eher durch Unwissen und Nichtwissen gekennzeichnet. Viele Menschen darin verzweifeln an der Komplexität dieser Welt, an der Globalisierung, an diesen schnellen Veränderungen. Und sie versuchen dann, für sich einfache Antworten zu finden. Nur können wir deswegen doch nicht die Jahrhunderte an Wissenschaft, wo wir uns auch vergewissern, was richtig und was falsch ist, über Bord schmeißen. Und genauso wie es Unfug ist, dass die Erde eine Scheibe ist, gibt es jetzt diese ganzen Mythen, die ich gar nicht wiederholen will. Davon darf man sich jetzt in diesen bewegten Zeiten nicht aus der Ruhe bringen lassen, sondern wir müssen besonnen und vernünftig damit umgehen. Gerade auch die Geschichte der Wissenschaft wurde ja auch viel von Männern und Frauen aus Deutschland mitgeprägt. Dass manche das jetzt infrage stellen, ist äußerst bedauerlich.

Gibt es so kurz vor der Bundestagswahl verstärkt Versuche, Einfluss auf Wikipedia-Artikel zu nehmen?

Humborg: Zu gezielter Beeinflussung habe ich keine Erkenntnisse. Allgemein gibt es aber natürlich, wenn man der Medienberichterstattung folgt, durchaus Mechanismen der Einflussnahme. Ich glaube, die Wikipedia ist da nicht das Objekt erster Wahl. Weil sie einfach auch sehr gute Abwehrmechanismen hat und man damit sehr schlecht durchkommt. Wenn jemand Angst und Schrecken verbreiten will, dann macht er das wahrscheinlich eher über geschlossene Whatsapp-Gruppen und über Telegram.

Haben Sie in der Wikipedia einen Lieblingsartikel, an dem Sie vielleicht sogar mitschreiben?

Humborg: Ich schreibe auch in der Wikipedia mit. Aber unter Pseudonym, wie das viele machen. Ich habe kein bestimmtes Themengebiet, sondern habe bisher thematisch sehr breit editiert. Ich weiß nicht, warum, aber wenn ich testen will, ob die Wikipedia funktioniert, und auf eine Seite gehen will, dann gebe ich immer irgendwie „Boris Becker“ ein. Sein erster Wimbledon-Sieg hat mich als Jugendlichen damals offenbar sehr beeindruckt. Außerdem passiert auf der Seite immer mal wieder etwas Neues.

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Zur Person

  • Christian Humborg (48) ist seit Juni Geschäftsführender Vorstand bei Wikimedia Deutschland. Seit Ende 2016 war er bereits Stellvertreter und Bereichsleiter Finanzen.
  • Von 2007 bis 2014 war der Verwaltungswissenschaftler Geschäftsführer der Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland. Danach baute er als Geschäftsführer das gemeinnützige Recherchezentrum CORRECTIV mit auf.
  • 2009 gewann er als Mitglied des Autorenkollektivs carta.info den Grimme Online Award. Zudem hat Humborg das Transparenzportal fragdenstaat.de mit initiiert.
Christian Humborg lenkt seit Juni 2021 die Geschicke beim Verein Wikimedia Deutschland.
Christian Humborg lenkt seit Juni 2021 die Geschicke beim Verein Wikimedia Deutschland. © Lena Giovanazzi für Wikimedia Deutschland | Lena Giovanazzi für Wikimedia Deutschland

Wikimedia Deutschland

  • Der Verein Wikimedia Deutschland mit Sitz in Berlin ist der deutsche Ableger der internationalen Wikimedia-Bewegung, die sich weltweit für die Förderung Freien Wissens einsetzt.
  • Wikimedia finanziert sich aus Spenden und betreibt als Dachmarke verschiedene Projekte der Wikimedia-Stiftung in den USA.
  • Das größte und bekannteste ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Sie wird gepflegt von tausenden Ehrenamtlichen. Knapp 160 Hauptamtliche bei Wikimedia Deutschland unterstützen die Arbeit der Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Wikipedia.