Berlin. Was macht es mit Kindern, wenn sie nur noch einen Corona-Freund treffen dürfen? Experten erklären, welchen Schaden das anrichten kann.

Es ist bislang nur eine Empfehlung, aber sie hat heftige Kritik ausgelöst: Um Ansteckungen zu vermeiden, sollten sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit nur noch mit einem Freund oder einer Freundin treffen. Du ja, du nein. So haben es sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und die Kanzlerin überlegt.

Noch ist es ein Appell, ein Vorschlag. Aber was, wenn das tatsächlich zur Vorschrift wird? Was Erwachsenen schon schwerfällt, wäre für so junge Menschen umso belastender, sagen Experten wie der Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung: „Dieser Vorschlag führt zu Leid.“

Kontaktbeschränkung: Kinder werden ausgegrenzt

Ein Problem sei, so Ritzer-Sachs, die Ausgrenzung. „Es gibt Kinder, die haben aktuell keinen besten Freund.“ Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort, Wissenschaftlicher Leiter der Fachklinik Marzipanfabrik in Hamburg sagt: „Es wird dann Kinder geben, die nicht ausgewählt werden, die ausgeschlossen werden.“

Das sei wie im Sportunterricht. Es gebe immer das Kind, das zuletzt gewählt wird oder übrig bleibt. „Durch eine solche Maßnahme würden soziale Strukturen sichtbar werden, die sonst verdeckt bleiben“, sagt Schulte-Markwort. Das verschlimmere die Situation dieser Kinder.

Vier Wochen sind für Kinder eine Ewigkeit

Jetzt könnte man sagen: Ist ja nicht für die Ewigkeit. Doch die Tatsache, dass es sich bei einer solchen Maßnahme nur um eine Einschränkung auf Zeit handeln würde, verbessere die Situation nicht, sind sich die Experten einig.

Denn das Zeitempfinden von Kindern sei ein anderes als das von Erwachsenen. „Wenn ich zehn Jahre alt bin, dauert es noch eine Ewigkeit bis Weihnachten “, sagt Ritzer-Sachs. „Und wenn ich zum ersten Mal verliebt bin, sind vier Wochen ohne die Auserwählte eine Qual.“

„In der Pubertät brauche ich vielfältige Kontakte, um mich zu messen“

Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann ist sicher: Die Information, dass man jetzt nur eine gewisse Zeit durchhalten müsse, tröste Kinder und Jugendliche nur wenig. „Es wäre eine Ewigkeit, die da verordnet werden würde“, sagt Hurrelmann.

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    Als älterer Mensch wisse man, dass schwierige Situationen vorbeigehen. Bei Kindern unter 15 Jahren sei das schwierig, „da ist man ungeduldig, will nicht abwarten.“

    Überhaupt wäre eine solche Maßnahme gegen die Entwicklungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen gerichtet. „Gerade in der Pubertät brauche ich vielfältige Kontakte, um mich zu messen und selbst zu entdecken“, sagt Hurrelmann.

    Bedürfnisse junger Menschen auf die Ausbildung reduziert

    Ähnlich formulierten es auch in der vergangenen Woche die Autoren einer Stellungnahme der Initiative Ethikrat Niedersachsen – unabhängig von dem Appell der Länderchefs.

    Wenn davon geredet werde, dass die bloße Feierlaune der jungen Menschen das Wohl und die Gesundheit der Älteren und Kranken gefährde, werde dabei missachtet, „dass das, was unter dem Stichwort ‘feiern’ subsummiert wird, im Kern jene Anlässe meint, in denen sich jungen Menschen – fernab von Schule und Elternhaus – unter- und miteinander ihren Sozialkreis erschließen“.

    Diese Anlässe seien aber für die Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung unabdingbar. Die Kritik der Autoren: Die Bedürfnisse junger Menschen sind einseitig auf Ausbildungsoptionen reduziert worden.

    Kinder und Jugendliche brauchen Kontakte außerhalb der Familie

    Wenn also Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sagt, es ginge ja nur um die Freizeit und die Kinder hätten trotzdem weiterhin Kontakte in Kita und Schule, geht das nach Meinung der Experten an den Bedürfnissen der Kinder vorbei.

    Junge Menschen brauchten Kontakte außerhalb der Familie, sagt auch Ulric Ritzer-Sachs: „Freundschaften dienen der Ablösung.“

    Man erlebe andere Lebenswelten und -modelle, welche Regeln oder Vorstellungen in anderen Familien gelten. Es riecht anders, es wird anders gekocht und gelebt. „Man lernt Fremdheit am besten mit Freunden“, bestätigt Michael Schulte-Markwort.

    Eltern sollten ihren Kindern erklären: Ihr seid keine Gefahr

    Was nun aber, wenn eine solche Ein-Freund-Regelung tatsächlich kommt? Sozialpädagoge Ritzer-Sachs sagt, das Wichtigste sei das Reden. Immer wieder müsse man mit den Kindern sprechen und ihnen die Situation erklären.

    Auch vor dem Hintergrund, dass in der Öffentlichkeit das Bild von Kindern als Virenschleudern gezeichnet werde: „Wenn ich das Gefühl habe, ich bin gefährlich, weil ich zum Beispiel Opa und Oma anstecken kann, ist das nicht gut“, sagt Ritzer-Sachs.

    Deswegen sei es so wichtig, dem Kind klar zu machen: Das ist bei allen Menschen so, das hat nichts mit dir zu tun. „Und sollte sich dann doch jemand anstecken, muss man deutlich machen: Das ist nicht deine Schuld, es ist ein Unfall.“

    „Überzeugt, dass es für einige Kinder schwere Zeiten werden“

    Ob die Pandemie bei jungen Menschen Schaden anrichtet, kann heute noch niemand sagen. „Ich bin aber überzeugt davon, dass es für einige Kinder und Jugendliche schwere Zeiten werden und dass wir das auch in einigen Monaten in den Beratungsstellen zu spüren bekommen“, fürchtet Ritzer-Sachs.

    Kinderpsychiater Schulte-Markwort rät für den Fall, dass eine Vorschrift beschlossen werden sollte, zu Pragmatismus: „Dann sollten die Eltern der Kinder miteinander sprechen und überlegen, wie gute Paare gebildet werden könnten.“

    Aber noch kann er nicht glauben, dass diese Entscheidung gefällt werden könnte: „Es reicht doch zu sagen, die Kontakte sollen so weit wie möglich reduziert werden.“ Den Kindern einen Freund zu erlauben, suggeriere eine Freiheit, die gar keine sei.