Hamburg. Bestsellerautorin Katja Seide spricht im Interview ab wann ein eigenes Handy sinnvoll ist – und warum zu viel Kontrolle schadet.

Wie lange darf mein Kind ans Handy? Und was treibt es eigentlich im Netz? Antworten auf Fragen wie diese bekommen Eltern und Lehrer an diesem Freitag beim „Digitalkompass“ von Blogfamiliär, einer Konferenz in der Deutschland-Zentrale von Facebook (siehe unten). Zu den Experten auf dem Podium zählt die Sonderpädagogin und Bloggerin Katja Seide, die mit Danielle Graf den Bestseller „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ schrieb, der sich schon mehr als 250.000-mal verkauft hat. Das Abendblatt hat mit der 43 Jahre alten Mutter von drei Kindern gesprochen.

Hamburger Abendblatt: Fünf Minuten „Sandmännchen“ sind für einen Dreijährigen sicher in Ordnung, aber wann wird es zu viel mit dem Fernsehkonsum?

Katja Seide: Für die Entwicklung des kindlichen Gehirns ist es gut, so spät wie möglich vor dem Fernseher zu sitzen und mit digitalen Medien in Berührung zu kommen. Das Gehirn braucht Zeit, um den sogenannten Präfrontalen Cortex zu trainieren. Der hilft dabei, eigene Impulse zu steuern, Pläne zu schmieden und sich zu konzentrieren. Trainiert wird das vor allem beim freien Spiel. Am günstigsten wäre es also, wenn Kinder bis zur Einschulung die meiste Zeit mit Freunden in der Natur verbringen. Nur welches Kind kann und macht das heute noch? Meine beiden Töchter durften erst mit vier Jahren fernsehen. Ihr kleiner Bruder aber hat sich schon mit einem Jahr dazugesellt. Und so läuft das doch in fast allen Familien. Also sollte man weniger dogmatisch sein und sagen: Man achtet eben darauf, dass die Kinder viel draußen sind. Und darauf, dass sie nie allein fernsehen.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn die Kinder beim Ausschalten des Fernsehgeräts trotzig werden?

Die Ratgeber-Autorin Katja Seide ist ausgebildete Sonderpädagogin und Mutter von drei Kindern.
Die Ratgeber-Autorin Katja Seide ist ausgebildete Sonderpädagogin und Mutter von drei Kindern. © Mark Garner | Mark Garner

Ich weiß, dass Eltern es beängstigend finden, wenn die Kinder ausflippen. Es ist aber ein gut erklärbares Phänomen. Es hängt wieder mit dem Präfrontalen Cortex zusammen. Dieser schaltet in den Ruhemodus, wenn wir zu lange fernsehen. Und alle Impulse, die wir in dieser Zeit haben, werden dann mit voller Wucht ausgeführt. Das bedeutet also nicht, dass die Kinder ungezogen sind. Dieser Ausbruch ist neurologisch bedingt. Insofern können wir Eltern ganz entspannt sein. Gleichzeitig sollten wir aber konsequent bleiben: Der Fernseher wird ausgeschaltet. Punkt.

Ab wann sollten Kinder ein eigenes Handy oder Smartphone besitzen?

Meine Kinder haben mit jeweils sechs Jahren ein eigenes Handy bekommen, weil sie mit der S-Bahn und dem Bus alleine zur Schule gefahren sind. Ich wollte, dass sie im Notfall anrufen können. So muss jede Familie individuell abwägen, ob und ab wann ein Handy oder Smartphone sinnvoll sind.

Der Massenger-Dienst WhatsApp, der erst ab 16 Jahren zugelassen ist, ist umstritten. Was tue ich, wenn mein Kind zu Recht sagt, es sei das einzige ohne WhatsApp? Und was, wenn Schulinformationen darüber laufen?

Optimalerweise sind Sie auf dieses Thema schon vorbereitet und schlagen bei der ersten Elternversammlung einen anderen, sichereren Messenger für den Klassenchat vor. Denn WhatsApp behält sich unter anderem das Recht vor, extrem viele Daten vom Handy zu ziehen – und zwar nicht nur des WhatsApp-Nutzers selbst, sondern auch von dessen Kontakten in der Adressliste. Zumindest die Lehrerin oder den Lehrer sollten Sie überzeugen können, Schulinformationen nicht über WhatsApp laufen zu lassen. Stärken Sie Ihr Kind und erklären Sie ihm die Nachteile der App, damit es Argumente an der Hand hat, warum seine Eltern ihm kein WhatsApp erlauben.

Ältere Kinder nutzen das Smartphone fürs Musikhören, Chatten, aber auch für Recherchen. Wenn man versucht, ein Zeitlimit aufzustellen und sagt: „Jetzt ist es genug“, dann ist die Antwort oft: „Aber ich schaue doch ein Physik-Video auf YouTube wegen der Klausur morgen.“ Dreht man sich als Elternteil weg, wird sofort wieder gechattet. Wie geht man damit um?

Möglichst entspannt. Legen Sie Regeln für Ihre Familie fest, die eingehalten werden. Bei uns ist das: keine Handys am Abendbrottisch. Die Buchautorin und Medien-Expertin Patricia Cammarata hat mit ihrer Familie die Regel: Ab dem Abendbrot werden alle persönlichen Endgeräte ausgeschaltet. Die Kinder verabschieden sich per Handy noch bei ihren Freunden mit „Ich bin dann jetzt bis morgen off“. Aber davor können sie mit ihrer Freizeit machen, was sie wollen. Ich finde, das schulische Lernen liegt in der Verantwortung unserer Kinder – wir brauchen uns da nicht ständig einzumischen. Sie lernen, wenn sie es wichtig finden. Wenn sie stattdessen zu viel chatten, gibt es eben eine schlechte Zensur. Vertrauen Sie Ihren Kindern in dieser Hinsicht mehr – sie wollen sich nicht die Zukunft verbauen und handeln in der Regel verantwortungsbewusst.

Wie bewerten Sie Apps, mit denen Eltern das Handy der Kinder ausschalten und deren Nutzungsverhalten kontrollieren können?

Das ist übergriffig. Wir wollen doch, dass unsere Kinder befähigt werden, selbst ihr Handy wegzulegen oder den Computer auszumachen, wenn sie irgendwann später als Studenten oder Berufseinsteiger alleine wohnen. Dann müssen wir auch dafür sorgen, dass sie Möglichkeiten zum Trainieren ihrer Impulskontrolle bekommen. Wenn wir bei unseren Kindern Apps nutzen, um die Medienzeit zu begrenzen, sagen wir ihrem Präfrontalen Cortex quasi: Deine Arbeit wird nicht gebraucht. Er wird nicht trainiert, weil das Kind sich nie selbst dazu entscheiden muss, ein Gerät auszuschalten.

Ab welchem Alter kann oder sollte man das Verhalten der Kinder nicht mehr reglementieren? Ab 15? 16? 18?

Ich hoffe, ich schockiere Sie jetzt nicht mit meiner Antwort: Mein jüngstes Kind ist 5, das älteste 9 und ich reglementiere keines von ihnen, was die Nutzung Digitaler Medien angeht. Bei der Frage der elterlichen Kontrolle kommt es doch wirklich sehr auf das Verantwortungsbewusstsein und auch auf die Selbstregulierungsfähigkeit des Kindes an. Die einen können das von Anfang an super, die anderen müssen üben, die nächsten brauchen Unterstützung. Schauen Sie auf ihr Kind, lassen Sie los, geben Sie ihm ein bisschen Übungszeit und gucken Sie, was es daraus macht. Am Anfang wird es sicherlich einen krassen Überkonsum geben, aber normalerweise pendelt sich das Ganze von allein ein – wenn das Kind genügend Gelegenheit hat, rauszugehen, Freunde zu treffen, Sport zu treiben.

Reagieren wir Eltern grundsätzlich zu panisch, wenn es um den Digitalkonsum des Nachwuchses geht?

Dass es Suchtverhalten gibt, ist unbestritten. Etwa ein Prozent aller Deutschen zwischen 14 und 65 Jahren sind internetsüchtig, belegen Studien. Noch einmal sechs Prozent sind akut suchtgefährdet. Die Frage ist: Warum können sich diese sieben Prozent so schwer vom Internet oder vom Handy lösen? Denn es kann ja nicht wie bei Heroin oder Kokain eine körperliche Abhängigkeit sein. Es ist eine Verhaltenssucht, die sich langsam einschleicht, weil die Grundbedürfnisse eines Menschen nicht ausreichend befriedigt sind. Das menschliche Gehirn ist ein soziales Organ, es braucht eine Mindestmenge an positiver sozialer Rückmeldung, um glücklich machende Hormone zu produzieren. Hat ein Mensch das im realen Leben nicht, sucht er unbewusst Ersatzbefriedigungen. Im Internet kann man zum Beispiel auf Instagram ziemlich viel positive Rückmeldung zu Fotos bekommen und fühlt sich so kurzzeitig besser. Nur haben Ersatzbefriedigungen die Angewohnheit, das Gehirn nur kurzzeitig zum Ausstoßen der Hormone zu bringen. Man braucht nach kurzer Zeit immer mehr von dieser Art der sozialen Rückmeldung, um sich gut zu fühlen. Schon ist man in einen Suchtkreislauf geraten. Die Frage, die sich Eltern stellen sollten, ist: Sind die Grundbedürfnisse meines Kindes befriedigt?

Was ist positiv an Smartphones?

Immer das allwissende Internet in meiner Hosentasche zur Verfügung zu haben. Wenn ich nicht weiß, was für eine Art Baum oder Käfer ich gerade sehe, google ich das sofort und bin dann ein Stückchen schlauer. Ich mag es auch, dass ich auf dem Handy sehr viele Bücher mitnehmen und lesen kann – mehr, als ich im Rucksack mitschleppen könnte. Und da ich oft in mir unbekannten Städten Vorträge halte, empfinde ich es auch als erleichternd, immer eine passende Karte dabei zu haben.

Was sind die negativen Aspekte? Und wie schütze ich mein Kind?

Klären Sie Ihre Kinder von Anfang an auf, sobald es allein im Netz unterwegs ist. So wie unsere Eltern uns früher gewarnt haben vor den fremden Männern, die uns Böses wollen. Bringen Sie Ihrem Kind Sicherheitsregeln bei: Es soll in Apps, in denen es eine Chatfunktion gibt, keine unbekannten Menschen als Freunde hinzufügen. Es soll keine privaten Details posten. Nicht, wo es wohnt, nicht, wie es heißt, auch nicht den Standort der Schule. Machen Sie ihm klar, dass Bilder, die es hochlädt, Metadaten haben, über die man relativ leicht herausfindet, welche Art Handy es hat und auch, wo genau das Bild aufgenommen wurde. Ihr Kind sollte keine Fotos von sich per Privatnachrichten auf Apps verschicken. Es soll vorsichtig mit Menschen umgehen, die es in Kommentaren überschwänglich loben oder ihm versprechen, es zum Star zu machen. Wenn das Kind ein ungutes Gefühl hat oder tatsächlich eine unangenehme Nachricht bekommt, sollte es hoffentlich sofort zu Ihnen kommen.

Welche Regeln zum Medienkonsum haben sich für Familien bewährt?

Ich finde, wenn man sich als Familie unterhält, dann sollte niemand aufs Handy schielen oder Kopfhörer mit Musik aufhaben. Das finde ich auch unhöflich, wenn ich mit erwachsenen Freunden unterwegs bin. Wenn ich mich mit ihnen treffe, möchte ich ihre volle Aufmerksamkeit und nicht, dass derjenige nebenbei Pokémon fängt oder seine Twitter-Timeline checkt. Diesen Wert der fokussierten Aufmerksamkeit möchte ich auch meinen Kindern mitgeben, deshalb lege ich im Alltag sofort mein Handy beiseite, wenn eins der Kinder etwas von mir möchte.

Sind wir Eltern, die auf dem Spielplatz kurz die Mails checken und beim Abendbrot noch was googeln, die richtigen Vorbilder?

Ich bin selbst so eine Mutter. Ich lese auf dem Spielplatz sehr häufig auf meinem Handy und manchmal, wenn die Kinder Fragen an mich haben, nutze ich auch beim Abendbrot YouTube oder Google, um ihnen die Antwort geben zu können. Wäre es weniger schlimm, wenn ich in beiden Fällen ein Buch genutzt hätte? Es ist sehr interessant, wie negativ die allgemeine Meinung zu Digitalen Medien ist, oder? Dabei sind sie aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Und deshalb ist ihre Anziehungskraft auf Kinder auch so groß. Die Spiegelneuronen im Gehirn unserer Kinder nehmen automatisch alles auf, was in ihrer Umgebung und in ihrer Gesellschaft passiert und das speichert das Gehirn als „normal“ ab. Da wir Erwachsenen in der heutigen Zeit alle quasi am Smartphone kleben, nehmen das unsere Kinder also als „normal“ wahr und wollen es uns gleich tun. Denn so funktioniert das Aufwachsen des Menschen: Wir kommen mit der Fähigkeit auf die Welt, uns in jegliche Gesellschaft und Umwelt einzufügen, in die wir geboren werden. Ein Kind, dass in der Wüste aufwächst, lernt alles, was man über das Leben in der Wüste wissen muss, indem es die Erwachsenen beobachtet und imitiert. Ein Kind, das in der Großstadt aufwächst, lernt, an Straßen zuverlässig anzuhalten. Und natürlich lernt es das, indem es die Erwachsenen beobachtet und imitiert. Wollen wir nun also, dass unsere Kinder eben nicht ständig am Handy oder am Laptop hängen, dann müssen wir das als Erwachsene ganz konsequent vorleben. Doch selbst wenn wir Eltern total medienfrei unterwegs sind, ist ja da noch der Rest der Gesellschaft. Es ist also unmöglich, die Spiegelneuronen unserer Kinder davon zu überzeugen, dass Digitale Medien nicht zu unserem Alltag gehören.

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Am Freitag, 14. Juni, spricht Bestseller-Autorin Katja Seide beim „Digitalkompass“, einer Konferenz aus der Veranstaltungsreihe Blogfamiliär, von 17 bis 20 Uhr in der Deutschland-Zentrale von Facebook (Caffa­macherreihe 7) über den richtigen Umgang mit digitalen Medien. Karten zum Preis von 10 Euro zuzüglich Gebühren gibt es unter www.eventbrite.de. Der Erlös geht an Plan International. Im Preis inbegriffen sind Essen und Getränke sowie Kinderbetreuung.