Lausanne/Bochum. Drei Querschnittsgelähmte können dank einer elektrische Stimulation des Rückenmarks wieder gehen. Ein Durchbruch der Forschung.

Auf den ersten Blick sieht Gehen ganz leicht aus: Man setzt einen Fuß vor den anderen und bewegt sich vorwärts. Wie komplex der Bewegungsablauf tatsächlich ist, zeigt ein Video von David M. Unsicher und ruckhaft wirkt der 28-Jährige aus Zürich, wenn er vorsichtig einen Fuß aufsetzt, das Gewicht verlagert und dabei mit den ausgebreiteten Armen rudert, um die Balance zu halten.

Dass David M. überhaupt ohne Hilfe gehen kann, ist erstaunlich. Seit einem Sportunfall im Jahr 2010 ist er querschnittsgelähmt – allerdings inkomplett, er hat noch Empfindungen in den Beinen. Dennoch glaubten seine Ärzte nach der anfänglichen Rehabilitation nicht mehr an eine weitere Besserung.

Inzwischen kann er, nach einer neuen Therapie und fünfmonatigem Training, mit Unterstützung mehr als einen Kilometer weit gehen – auch wenn es unbeholfen wirkt.

Bei einer Querschnittslähmung ist der Signalaustausch gestört

Gehen ist ein bis ins kleinste Detail aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel von Strecken und Beugen, von Muskeln mit Hüft-, Knie- und Fußgelenken, von Gewichtsverlagerungen und zudem ein ständiger Balanceakt, erklärt Mirko Aach von der Abteilung für Rückenmarkverletzte am Uniklinikum Bochum. Bei dem Prozess versende das Gehirn nicht nur stetig Befehle, es verarbeite auch ununterbrochen Rückmeldungen.

Der Signalaustausch zwischen Gehirn und Peripherie läuft durch das Rückenmark innerhalb der Wirbelsäule. Bei einer Querschnittslähmung sind die Nervenbahnen – etwa durch einen Unfall oder Tumor – je nach Grad der Schädigung mehr oder weniger stark unterbrochen.

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    Neue Hoffnung für Betroffene nach medizinischem Durchbruch

    „Jahrhundertelang galt eine Lähmung nach einer Rückenmarkverletzung jenseits der Besserung nach sechs Monaten als unheilbar“, betont Chet Moritz von der University of Washington in Seattle. Im Fachblatt „Nature Neuroscience“ kommentiert der Experte für Querschnittslähmungen eine Schweizer Studie des Journals „Nature“, die die Fachwelt aufhorchen lässt.

    Darin stellt ein Team um Grégoire Courtine von der Polytechnischen Hochschule Lausanne (EPFL) drei querschnittsgelähmte Patienten vor, die mit einem speziellen Verfahren – der gezielten Elektrostimulation des Rückenmarks – ihre jahrelang gelähmten Beine wieder bewegen können. David M. ist einer von ihnen.

    Forscher setzen Elektrostimulation ein

    Vor wenigen Wochen erst haben zwei Forscherteams in den Zeitschriften „Nature Medicine“ und „New England Journal of Medicine“ von ähnlichen Fortschritten nach Elektrostimulation des Rückenmarks berichtet. Doch während diese Patienten ständig stimuliert wurden, bekamen die Teilnehmer der neuen Studie nur dann Impulse ins Rückenmark, wenn sie ihre Beine bewegen wollten.

    Die Forscher betrachten ihre Arbeit als Machbarkeitsnachweis dafür, dass verloren geglaubte neurologische Funktionen wiedererlangt werden können. Allerdings hatten alle drei Patienten – in unterschiedlichem Maße – vor der Therapie noch ein Mindestmaß an Empfindungen, bei keinem von ihnen waren die Nervenbahnen im Rückenmark komplett durchtrennt. Und je weniger sie geschädigt waren, desto stärker profitierten sie von der Behandlung.

    16 Elektroden imitieren Signale des Gehirns

    Co-Autorin Jocelyne Bloch von der Uniklinik Lausanne erläutert den Ansatz der gezielten Elektrostimulation: „Wir implantieren einen Satz von Elektroden über das Rückenmark, was es uns erlaubt, einzelne Muskelgruppen in den Beinen anzusteuern.“

    Um die am Gehen beteiligten Muskeln zu kontrollieren, werden je nach Phase der Gehbewegung bestimmte Konfigurationen dieser 16 Elektroden aktiviert. „Wir imitieren jene Signale, die das Gehirn zum Gehen aussendet“, sagt die Neurochirurgin.

    Um die Stimulierung mit der Bewegungsabsicht zu synchronisieren, registrieren Sensoren die vom Gehirn ausgesandten Bewegungsreize, die dann binnen 20 Millisekunden durch gezielte Stimulierung der entsprechenden Muskelgruppen verstärkt werden. „Alle Patienten konnten innerhalb einer Woche mit einem Assistenzsystem zur Gewichtsentlastung gehen“, sagt Bloch.

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      Bessere Muskelkontrolle nach wenigen Monaten

      Nach fünf Monaten, in denen sie vier- bis fünfmal pro Woche trainierten, hatten sie die Kon­trolle über die Muskeln deutlich verbessert. „Die eigentliche Arbeit haben die Patienten gemacht“, betont Courtine. Inzwischen können die drei Patienten die Stimulation per Sprachsteuerung über eine Uhr oder ein Tablet an- oder abschalten.

      Das intensive Training stärkte offenbar die noch funktionsfähigen Nervenverbindungen sowie jene Hirnareale, die an der Koordination der Bewegungen beteiligt sind. Am Ende konnten die Patienten ihre Beine sogar bewegen, wenn die Stimulation abgeschaltet war.

      Warnung vor überzogenen Erwartungen

      Angesichts der drei jüngsten Studien spricht Chet Moritz in seinem „Nature Neuroscience“-Kommentar von einem „Durchbruch in der Therapie von Lähmungen“. „Die Forscher stoßen eine sehr interessante Tür auf“, sagt auch Mirko Aach. „Das bietet viele Perspektiven.“

      Gleichzeitig warnt er vor überzogenen Erwartungen. Die Studie sei ein Machbarkeitsnachweis, das Verfahren noch nicht für eine breite Anwendung geeignet.

      Bei erst kurzzeitig Betroffenen sind Potenziale größer

      Co-Autorin Bloch betont einen weiteren wichtigen Punkt. In der Studie habe man Menschen untersucht, deren Verletzung Jahre zurückliege. Wenn man Patienten kurz nach einer Schädigung des Rückenmarks behandele, sei das Besserungspotenzial wesentlich größer – auch weil das Gehirn die Bewegungsabläufe beim Gehen noch nicht verlernt habe.

      Das glaubt auch Lukas Grassner vom Zentrum für Rückenmarkverletzte in Murnau. „Es wird interessant sein, dieses Verfahren bei Patienten in der Frührehabilitation einzusetzen.“