Berlin. Die Herstellung eines Büstenhalters ist hochkompliziert – manches Modell besteht aus 35 Teilen. Und die Entwicklung geht immer weiter.

Ein Arbeiter in Overall legt den schwarzen Stoff über zwei vi­brierende Rollen so breit wie ein Schreibtisch. Die Maschine schüttelt das Textil, sodass es winzige Sprünge macht. „Danach muss das Material ruhen, je nach Typ zwei Stunden oder sogar bis zu zwei Tage“, erklärt Katja Hartenstein, Leiterin der Abteilung Forschung und Entwicklung beim Unterwäschehersteller Anita im bayerischen Brannenburg. Das Schütteln des Stoffs hat eine technische Bewandtnis: Die elastischen Materialien waren zum Transport unter Spannung aufgerollt und müssen sich nun entspannen, damit sie später korrekt verarbeitet werden können.

Zu Besuch in der Zuschnittabteilung des Unternehmens. Mitarbeiter beaufsichtigen riesige wummernde Maschinen, die die Stoffbahnen schütteln, ansaugen und schließlich mit einer computergesteuerten Ministichsäge schneiden. Dann zeichnen sich die Textilstückchen auf dem Stoff wie frisch gestochene Plätzchen auf einem ausgerollten Teig ab. Einer Hose sieht man schon am Schnittmuster an, was sie wird. Aber aus diesem Durcheinander an kleinen Trapezen, Dreiecken und Bändern? Spontan käme man nicht auf die Idee, dass dieses Puzzleteileset ein Büstenhalter wird. An die 35 Teile gehören je nach Modell dazu.

2,5 Jahre Entwicklung und 100 Testerinnen für ein Modell

Der BH ist das Flugzeug der Bekleidungsindustrie. Ein hoch kompliziertes Produkt, entworfen von Designerinnen, bearbeitet von Ingenieuren, Textiltechnikern, gefertigt von Fabrikarbeitern und Näherinnen, wobei jedes Teil auf einige Millimeter genau zum anderen passen muss. Bis zu zweieinhalb Jahre Entwicklung und hundert Testerinnen braucht es, bis ein vollkommen neues Modell bei Anita entsteht. Warum ist der BH heutzutage so höllisch komplizierte Unterwäsche?

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„Die Ansprüche der Frauen an den BH steigen“, sagt Hartenstein. Über 90 Prozent tragen heute das formende Dessous. Vergessen sind die 68er, als Frauen es als Symbol der Unterdrückung verbrannten. Gegenwärtig erfüllt der Büstenhalter parteiübergreifend seine Zwecke: Er soll die Brust in die optimale Form rücken, aber nicht drücken. Das T-Shirt soll ungestört über die wohlgerundete Oberweite fallen.

Es gibt viele verschienene Arten von BHs

Scheuern darf er nicht mehr, schon gar nicht beim Sport. Deshalb gibt es Sport-BHs, Trägerloses für das Abendkleid, Reizendes für den Abend, T-Shirt-BHs, die nahtlos die Brust einhüllen oder Spacer-BHs aus besonders luftdurchlässigem Material. Es gibt Cups, die die Brust vergrößern, andere, die sie nach vorne schieben, wieder andere, die sie an den Torso drücken. Nur: Abzeichnen soll sich der BH nicht. Wohl aber darf der Träger hervorblitzen oder das Material durch die Bluse schimmern. Vor Jahren noch billige Manier, ist das nun Mode. Zu vermeiden sind aktuell dagegen Brustwarzen, die sich hinter der Oberbekleidung erahnen lassen.

Frauen stimmen Lingerie auf die Oberbekleidung ab

Das sagt vor allem eines: Die etwa 50 Gramm Textil für den weiblichen Oberkörper sind in erster Linie modisches Accessoire. Viele Frauen stimmen ihre Lingerie auf die Oberbekleidung ab – farblich wie auch in der Form des Dekolletés. Und die profitorientierte Wäsche-Industrie schürt Begehrlichkeiten. „Der eigentliche Boom in der Branche setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein“, konstatiert die Textilhistorikerin und Kuratorin Ilona Kos vom Textilmuseum in St. Gallen.

Für einen der jüngeren Trends machten die expandierenden Lingeriespezialisten eine Anleihe bei den im Niedergang begriffenen Hutmachern. Die hatten eine Technik, den Hutstoff standfest in Form des Kopfes zu bringen: Den Stoff erhitzen, bis die Fasern leicht schmelzen. Im nun weichen Zustand in eine Form drücken und abkühlen lassen. Spezielle Kunstfasern bleiben dann in der Form dieser Prägung. Genauso funktioniert das beim BH: Das Körbchen wird in den Stoff eingeprägt, ohne dass es Nähte braucht. Diese sogenannte Nahtlos-Ware macht heute einen großen Teil des Wäschesortiments aus.

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    Heiße Metallstempel werden in das Textil gedrückt

    Die Firma Anita hat sich auf die Prägetechnik spezialisiert. In einer eigenen Abteilung bewerkstelligen Arbeiter nichts weiter, als die BH-Stoffe in Cup-Form zu bringen. Das geschieht an vier Maschinen. Ein Ofen heizt zwei metallene, formschöne „Brüste“ auf 200 Grad Celsius auf. Dann werden heiße Metallstempel für dreißig Sekunden in das Textil gedrückt. „Mit welcher Temperatur und in welchem Tempo, hängt vom Stoff und von der Farbe ab. Das programmieren wir vorher“, erklärt Georg Weber-Unger, Sohn des Inhabers.

    „Damit haben wir vor 15 Jahren angefangen“, sagt er und nimmt zwei planetariumsartige Gebilde in die Hand. Die Brust war damals einfach eine symmetrische Kuppel. Die Bruststempel heute dagegen sind zur Achselhöhle flacher und zur Körpermitte hin steiler, damit die Brust dezent zusammengeschoben ein schmales Tal in der Mitte bildet. Für verschiedene Modelle und für jede Größe hat Anita einen Stempel. „Beim Sport-BH sind sie flacher, schließlich soll die Brust am Körper gehalten werden, damit nichts wehtut“, erklärt Weber-Unger.

    Die Brüste von Frauen sind extrem unterschiedlich

    Unterwäschefabrikanten nehmen derzeit viel Geld in die Hand, um den BH weiter zu optimieren. Am Hohenstein Institut für Textilinnovation in Bönnigheim untersucht Textilexpertin Angela Mahr-Erhardt gerade an einem speziellen Torso, der Druck messen kann, wo handelsübliche Büstenhalter in die Schulter einschneiden. Denn immer noch sehen Hautärzte Frauen mit tiefen Furchen und wunden Druckstellen. Diese sind zumeist auf die Träger zurückzuführen, die, wenn sie zu schmal oder zu hart sind, besonders bei fülliger Oberweite einschneiden.

    Ein Körbchen der Größe J funktioniert deshalb nur mit breiten Trägern und breitem Verschluss im Rücken. Und die Körbchen müssen möglichst viel Halt spenden. Seit den 60er-Jahren schon vermisst das Hohenstein Institut Tausende Frauenkörper, seit gut zwei Jahrzehnten werden sie auch gescannt, um der Wäscheindustrie die richtigen Maße zu liefern. Was die Textiltechnikerin Simone Morlock dabei sieht, behagt den Unternehmen nicht. „Die Brüste der Frauen sind extrem verschieden. Eigentlich gibt es keinen perfekten BH für alle“, sagt Morlock. Deshalb passt am Ende nur das Modell weniger Hersteller richtig gut. Es gibt also auch eine anatomische Ursache für die Fülle unterschiedlicher BHs und deren Komplexität.

    Brust ist symbol- und sinnbeladen wie kein anderes Körperteil

    Aber das reicht als Erklärung nicht. Die Brust ist eben auch symbol- und sinnbeladen wie kein anderes Körperteil. Sie ist Ausdruck der Weiblichkeit, erotisches und sexuelles Attribut. Sie nährt, wärmt und beruhigt das Kind. Und die Form des Busens erzählt vom Alter und vom Leben. Aber das wollen Frauen lieber kaschieren. Die formschöne, jugendlich straffe Brust ist gesellschaftlicher Konsens. Nur deshalb funktioniert der Büstenhalter als Hightech-Textil. Die Socke nicht.