Hamburg. Nie wieder aufräumen: Das Ziel, das unsere Reporterin erreichen will, klingt utopisch. Sie findet den ultimativen Ordnungsratgeber.

Aufräumen. Schon das Wort löst Stress aus. Oft wird es kombiniert mit dem Verb müssen, was es auch nicht besser macht: „Ich muss noch aufräumen.“ Schlimmster Satz in meinem Alltag. In ihm verkörpert sich Zwang, nicht nur eine innere Verpflichtung. Aufräumen müssen – zwei Wörter wie ein Paar Handschellen.

Bis die Dinge nicht geordnet sind, fühle ich mich unfrei. Und es sind viele Dinge, die in unserer Wohnung allabendlich so herumliegen. Die Jacken und Mützen der Kinder, wahllos in den Flur geschmissen. Schälchen, in denen irgendwann mal Obststücke waren, jetzt sind sie nur noch verschmiert. Taschentücher, gebraucht natürlich. Regelmäßig zwei Haufen: einen mit Wäsche („muss ich noch zusammenlegen“) und einen mit Büchern. „Entdecke die Ritter“, „Entdecke die Farben“, „Entdecke die Tiere“. „Entdecke die Ordnung“, das würde ich mir als Lektüre für meine Kinder wünschen.

Ab und zu entdecke ich meinen Mann

Die Bücher verteilen sich gleich­mäßig über Schlaf- und Wohnzimmer, ebenso die Kapla-Bausteine, auf denen ich ausrutsche. Nur ich, der Rest meiner Familie nie. Ein Phänomen. Einzelne Socken, keine Ahnung, wie das immer wieder passiert. Einhörner fliegen mir um den Kopf, die Lego-Steine wiederum verstecken sich gern zu meinen Füßen in den Altbauritzen. Es kostet mich im Durchschnitt zwei Minuten, sie mit einem Messer herauszupulen. (Nicht ohne Stolz möchte ich darauf hinweisen, mich im vergangenen Jahr um 30 Sekunden verbessert zu haben).

Danach kommt die Küche dran, dann das Badezimmer, ab und zu entdecke ich zwischen all meinen Tätigkeiten meinen Mann, sage kurz Hallo! Und räume weiter auf. Die Liste der zu erledigenden Dinge variiert regelmäßig durch neue Elemente, doch im Grunde mache ich jeden Abend das Gleiche. Come on, Sisyphos! Here we go again. Nachts träume ich von einer größeren Wohnung oder zumindest von einem Keller oder einem Dachboden, beides besitzen wir nicht. Mehr Platz, das scheint in meinem Unterbewusstsein die Antwort auf mein Problem zu sein.

Die Bibel für Aufräum-Jünger

So kann es auf jeden Fall nicht weitergehen, daher lautet mein Vorsatz für 2018: weniger aufräumen müssen. Um diesem Ziel näher zu kommen, kaufte ich mir als Erstes eine größere Wohnung. Haha! Freudscher Verschreiber. Schön wär’s. Nein, aber 9,99 Euro reichten, um mich zu erlösen. Eine lebensverändernde Investition.

„Magic Cleaning“ von Marie Kondo heißt das Buch, das unter den Aufräum-jüngern weltweit zu einer Bibel geworden ist. Sieben Millionen verkaufte Exemplare eines in 27 Sprachen übersetzten Werkes, in dem es ausschließlich um richtiges Aufräumen geht. Die sogenannte KonMari-Methode wird von ihren Fans ähnlich stark missionarisch verbreitet, wie Thermomix-Anhänger ihre Art zu kochen empfehlen. Marie Kondo ist eine unscheinbare Japanerin mit einem krassen Ordnungsfimmel, also deutlich krasser als meiner. Nach eigenen Angaben hat sie 80 Prozent ihres Lebens bislang mit dem Thema Haushaltsorganisation verbracht.

Effektive Methode

Doch sie hat in der Tat eine effektive Methode entwickelt, die Beschäftigung mit dem Gerümpel des Alltags zu einem Fest werden zu lassen, und verspricht durch richtiges Aufräumen nicht weniger als eine positive Auswirkung auf unser Denken und unsere Persönlichkeit: „Der Generalangriff auf das alltägliche Chaos macht uns zu selbstbewussteren, zufriedenen, ausgeglichenen Menschen. Bei vielen meiner Klienten läuft es danach am Arbeitsplatz besser, oder in der Familie klappt es wieder.“

Kondos Terminologie („General­angriff“) deutet schon darauf hin, dass es sich bei ihrer Methode nicht um eine lustige Feierabend-Beschäftigung handelt. Es wird hart, schmerzhaft, man muss Verluste beklagen, und es dauert Tage. Doch danach muss man angeblich nie wieder aufräumen.

Schwierigkeitswert beim Wegwerfen

Also Attacke! Die 220 Seiten des Buches zusammengefasst, soll ich vor allem zwei Dinge tun: 1. Dinge wegwerfen,
2. Aufbewahrungsorte festlegen. Die beiden Handlungen sind strikt voneinander zu trennen, mit Schritt zwei darf erst begonnen werden, wenn Schritt eins vollständig abgeschlossen ist, und ich soll auch nicht nach Zimmern vorgehen, sondern nach Kategorien von Dingen. Erst Kleidung, dann Bücher, Schriftstücke, Kleinkram und ganz zuletzt Erinnerungsstücke.

Kleidung hat einen geringen Seltenheitswert und ist deshalb besonders gut für den Anfang geeignet; der Schwierigkeitswert beim Wegwerfen entspricht keinesfalls dem von beispielsweise Fotos (hoher emotionaler Wert). Ich beginne mit dem Ausmisten in der Kategorie Kleidung mit der für mich extrem unemotional behafteten Unterkategorie Strumpfhosen.

47 Strumpfhosen landeten im Müll

Um zu entscheiden, ob eine Strumpfhose weggeworfen werden kann oder nicht, soll ich jede einzelne in die Hand nehmen und sie fragen: „Machst du mich in diesem Moment glücklich?“ Kondo empfiehlt eine ruhige Atmosphäre beim Aussortieren, Musik könnte das Gespräch des Herzens mit den Dingen stören. Außerdem sei der Morgen zum Wegwerfen besser geeignet als der Nachmittag, sie selbst kommt gern um 6.30 Uhr zu ihren Kunden.

Also stellte ich eines Morgens um 6.46 Uhr einer gepunkteten Nylon die Frage: „Machst du mich glücklich?“ Sie denken jetzt, ich wäre verrückt, mein Mann dachte genau dasselbe. Doch mein Leidensdruck war einfach so hoch, dass ich diese von so vielen gefeierte Methode versuchen wollte. Leider antwortete mir die Strumpfhose nicht, was ich als Nein bewertete. 47 Strumpfhosen landeten im Müll,
übrig blieben fünf, alle „Falke 100 schwarz“. Das waren ohnehin die Einzigen gewesen, die ich anzog, fiel mir auf. Bei Jeans und Blusen schlug ich mich ähnlich wacker, doch bei Kleidern geriet ich an meine Grenzen.

Kondo kennt keine Gnade

Mein Wegwerf-Mut verließ mich jedes Mal, wenn ich an den ursprünglichen Preis dachte oder den Anlass, zu dem ich es erworben hatte. Kondo kennt da keine Gnade. Wenn es JETZT nicht glücklich macht, dann muss es weg. Bei schlechtem Gewissen helfe es, Abschied zu nehmen. Also sagte ich einem pailetten­besetzten Rock von Strenesse und einigen anderen Fummeln das empfohlene Sprüchlein: „Danke, dass du bei mir warst, du hast deine Aufgabe erfüllt.“ Schluck. Was für Verluste. Doch ich rückte eindeutig vor. „Nur durch radikales Aufräumen in einem Rutsch wird ein drastischer Bewusstseinswandel ausgelöst“, sagt Kondo. Tatsächlich erfuhr ich einen heilsam positiven Schock. O! So viel Platz plötzlich.

Nach einer Weile gefiel mir auch die Zeremonie des Dinge-in-die-Hand-Nehmens sehr. Die Achtsamkeitswelle riss mich mit sich. Zum Einschlafen schaute ich mir YouTube-Videos von Marie Kondo an, wie sie (auf Japanisch mit englischen Untertiteln) erklärt, wie man T-Shirts richtig zusammenlegt oder Hosen nach Farbe und Material in der Schublade sortiert. Eine amerikanische Kolumnistin nannte Kondo mal die „Zen-Version von Aristoteles“, ich finde das keineswegs übertrieben. Weg mit dem Ballast! Es gilt die größtmögliche Leere zu erreichen für größtmöglichen Entfaltungsraum.

Extreme Disziplin erfordert

Einen Platz für die Dinge zu bestimmen fand ich im Vergleich zum Ausmisten dann weniger herausfordernd, es erfordert nur extreme Disziplin. Laut Kondo soll ich sogar jeden Abend den Inhalt meiner Handtasche auskippen und jedes Ding, vom Portemonnaie über die Taschentücher bis zum Hausausweis, an seinen Platz legen. Hilft angeblich auch, um mit dem Tag abzuschließen, finde ich aber sehr zeitaufwendig. Auch Kondos Abneigung gegen runde Aufbewahrungsformen („Platzfresser“) und Stapel teile ich nicht. „Stapeln ist in meiner Aufräumphilosophie ein Unwort. Wir merken dadurch nicht, wie sich die Zahl der Dinge vervielfacht,“ sagt Kondo, „und die Dinge, auf denen über einen längeren Zeitraum andere Dinge lasten, werden nach und nach schwächer“.

„Bisschen zu esoterisch, finde ich!“ Huch! Plötzlich steht die Stimme der Vernunft im Raum, wo kommt die denn her? Von Wiebke Unger, einer eher pragmatischen Aufräumberaterin aus Hamburg. Genau wie Kondo sieht sie eine Koinzidenz von Ordnung und Glück: „Das bringt fürs Wohlbefinden mehr als eine Woche Urlaub.“ Doch die 45-Jährige geht bei ihren Kunden weniger wie Truppenführer Kondo vor, sondern etwas einfühlsamer, etwas realistischer: „Es darf ja auch noch gelebt werden in den eigenen vier Wänden.“ Doch, wenn ich so darüber nachdenke ... Wie ein Apple-Store soll meine Wohnung dann nun auch nicht aussehen.

Mann will nicht mit Unterhosen sprechen

Außerdem war mir aufgefallen, dass meine Familie meinen Generalangriff sabotierte. Meine Kinder behaupteten bei jedem einzelnen Spielzeug, selbst bei dem kaputten, es würde sie sehr, sehr glücklich machen, und mein Mann stellte klar: „Bei aller Liebe: Ich werde mich ganz sicher niemals mit meinen Unterhosen unterhalten.“ Machen wir uns nichts vor: Ich war die Ursula von der Leyen unter den Aufräumern. Ich hatte meine Truppe nicht im Griff.

Doch Wiebke Unger (www.ordnungsglueck.de) verhalf mir ins Ziel: „Mein Plädoyer ist nicht, dass jeder zwanghaft ordentlich sein muss. Man darf nur nicht von seinen Dingen erdrückt werden.“ Sonst sei das eigene Zuhause kein Ort der Entspannung mehr. Unger besucht ihre Kunden oft mehrmals hintereinander und hilft ihnen nach dem Ausmisten auch dabei, neue Strukturen aufzubauen. Wichtig findet der Ordnungs­coach, Dinge stets zu Ende zu führen. Öffnet man beispielsweise ein Müsli, dann ist der Prozess des Aufräumens erst beendet, wenn Packung und Schere wieder an ihrem Platz sind. So wird verhindert, dass im Laufe des Tages zu viel Unordnung entsteht.

Das leidige Thema Papiere

Genauso beim Spielen: Hat mein Sohn einen Turm gebaut, soll er die Bausteine künftig erst wieder wegräumen, bevor er die Bücherkiste auskippt. „Zu viel Spielzeug vor Augen lenkt die Kinder sowieso nur unnötig ab“, erklärt Unger. Auch für die Kreativität von Kindern gelte: Weniger ist mehr. Vor Geburts­tagen sollen wir künftig gemeinsam aussortieren. Wer ein neues Spielzeug als Geschenk bekommen möchte, muss ein anderes Spielzeug dafür gehen lassen. Die gleiche 1:1-Regel gilt natürlich auch in Bezug auf meine Klamotten.

Dann das leidige Thema Papiere. Post nur einmal in die Hand nehmen und nach dem Lesen gleich entscheiden: Kommt der Brief in die Ablage „To do“ (Rechnungen, Rückantworten etc.) oder in die Ablage „Aufbewahren“? Den „To- do“-Stapel arbeitet man spätestens am Ende der Woche ab, die anderen Unterlagen kann man irgendwann in einem Rutsch in die entsprechenden Ordner abheften. „Gesammelt vorzugehen ist effektiver“, sagt Unger. Die restliche Post landet umgehend im Altpapier.

Nur wie bringe ich meiner 18 Monate alten Tochter bei, ihre Einhörner nach dem Umherfliegen in der Wohnung zurück in die rote Kiste zu packen? „Immer das beste Beispiel sein“, sagt Unger. Und ein Einhorn-Bild an die Kiste packen. „Hier gehen jetzt abends immer die Einhörner schlafen“, erkläre ich meiner Tochter. „Zum Glück“, sagt mein Mann. „Du sprichst wieder mit deinen Kindern anstatt mit Strumpfhosen.“