Berlin. Pillen und Cremes sollen uns vor Freien Radikalen schützen. Dabei könnten die aggressiven Sauerstoff-Verbindungen sogar gesund sein.

In Kindheit und Jugend prall und glatt, beginnt unsere Haut mit den Jahren zu schrumpeln. Die Organe schwächeln, wir altern. Schuld ist eine Gruppe kleiner Hooligans – die freien Radikale –, die den Körper beständig attackieren. Das zumindest nahm der US-Altersforscher Denham Harman in den 1950er-Jahren an.

Bis heute sind Wissenschaftler sich nicht einig darüber, wie groß der Einfluss der freien Radikale auf den Alterungsprozess ist. Tatsächlich könnten sie der Gesundheit sogar nutzen. Hersteller von Kosmetika und Nahrungsergänzungsmitteln verdienen trotzdem mit dem Versprechen, vor der vermeintlich schädlichen Wirkung der Winzlinge zu schützen.

Kein neumodisches Phänomen, sondern ein Abfallprodukt

„Freie Radikale, das klingt ja schon so aggressiv. Darauf bauen viele Firmen und verkaufen Produkte, die dagegen helfen sollen“, sagt Markus Schwarzländer, der am Institut für Biologie und Biotechnologie der Universität Münster lehrt. Dabei sind freie Radikale kein neumodisches Zivilisationsphänomen, sondern ein Stoffwechsel-Abfallprodukt, das in Organismen entsteht, seit es auf der Erde Sauerstoff gibt.

„Ein freies Radikal ist ein Molekül mit einem ungepaarten Elektron“, erklärt Schwarzländer. Das mache es instabil. Fieberhaft suche es nach anderen Molekülen, denen es das fehlende Elek­tron entreißt. „Das funktioniert mit den Molekülen – also Proteinen, Fetten oder sogar der DNA – aller Zellen im menschlichen Körper, zum Beispiel Hautzellen“, ergänzt der Wissenschaftler. „Wenn dieser Prozess in den Zellen überhandnimmt, wird das auch als oxidativer Stress bezeichnet.“

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    Durch ihn entstehen Schäden an den Zellen, bei Menschen etwa Hautfalten und -flecken. Besonders zahlreich sind sowohl diese Schäden als auch freie Radikale im Gewebe älterer Lebewesen zu finden. Noch heute sind einige Forscher deshalb davon überzeugt, dass die freien Radikale im Alterungsprozess die Hauptschuldigen sind. Zuletzt glaubten chinesische Forscher 2014, den scheinbar eindeutigen Zusammenhang belegt zu haben.

    Hat der Körper einen Verteidigungsmechanismus gegen diese Schäden?

    Ein Team um En-Zhi Shen von der Universität Peking hatte einen fluoreszierenden Farbstoff in die Mitochondrien junger Fadenwürmer eingeschleust. Die Mitochondrien werden auch Kraftwerke der Zelle genannt, sie produzieren Energie für alle lebenswichtigen Prozesse. Als Nebenprodukt ihrer Aktivität entstehen auch freie Radikale.

    In der Studie sollte der Farbstoff die Menge der freien Radikale sichtbar machen, die sich in den Mitochondrien der Würmer bildeten. Und tatsächlich: Je mehr freie Radikale entstanden, umso früher starben die Würmer. Doch Markus Schwarzländer widerlegte die These damals gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam. „Der Farbstoff war überhaupt nicht in der Lage, freie Radikale zu messen“, erklärt er, „die Ursachen für das Altern sind weiterhin ungeklärt.“

    Der Popularität der Theorie über die freien Radikalen hat dieser Gegenbeweis keinen Abbruch getan, weiß Nina Bonekamp, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln. „Sie hat die Altersforschung begründet und der Gedanke, dass sich das Altern aufhalten lassen könnte, fasziniert bis heute.“ Doch die promovierte Humanbiologin ist überzeugt: „Freie Radikale tragen zur Alterung bei, aber sie sind nicht dafür verantwortlich“. Der Körper habe Verteidigungsmechanismen, die einem Teil der Schäden entgegenwirkten.

    Die Werbung verspricht: Smoothies fangen die Radikale ein

    Reagiert ein freies Radikal etwa mit einer Base der DNA, kommt es zu einer Mutation. Für die Zelle wichtige Bausteine werden dann fehlerhaft produziert. Passiert das mehrfach, stirbt die Zelle. „Aber Zellen sind bei solchen Angriffen nicht wehrlos, sie können solche Mutationen erkennen, herausschneiden und durch die richtige Gensequenz ersetzen“, sagt Bonekamp, „diese Mechanismen werden oft unterschätzt“.

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      Auch durch sogenannte Antioxidantien erhält der Körper Unterstützung. „Dazu zählen zum Beispiel Vitamin E und Vitamin C“, erklärt die Expertin. Die Stoffe stecken vor allem in frischem Obst und Gemüse. Sie gebenden freien Radikalen freiwillig ein Elek­tron ab, ohne dabei selbst zu radikalisieren, und schützen auf diese Weise andere Zellen vor Schäden.

      Als der Mechanismus der Antioxidantien erstmals bekannt wurde, versuchten Wissenschaftler, die freien Radikale mit deren Hilfe gezielt auszuschalten. Hoch dosierte Vitamine sollten etwa vor Krebs schützen. Doch sowohl im Tierversuch als auch bei Studien mit Menschen trat teilweise das Gegenteil ein, der Krebs entwickelte sich schneller.

      „Der Anstieg von freien Radikalen sendet in der Zelle ein wichtiges Signal, es kommt zu einer Stressreaktion, mit der Schutzmechanismen in der Zelle aktiviert werden“, sagt Bonekamp. „Die Gabe von hochkonzentrierten Antioxidantien in Form von Nahrungsergänzungsmitteln kann diesen positiven Effekt unterdrücken.“

      Trotzdem nehmen noch immer viele Menschen Vitamin-Pillen ein, um sich vor den vermeintlich gefährlichen Radikalen zu schützen. Auch auf mit Vitaminen angereicherten Smoothies und Fruchtsäften wird gezielt mit den Radikalfängern geworben. „Dabei ist gar nicht klar, wie viel davon in der Zelle ankommt und ob die dadurch erzeugte Wirkung überhaupt wünschenswert ist“, sagt Bonekamp.

      Ist ein Großteil des Alterungsprozesses schlicht Zufall?

      Ähnliches gilt auch für mit Antioxidantien wie Q10 angereicherte Kosmetika. Der Mensch stellt diese Substanz selbst her, wobei die Produktion mit dem Alter nachlässt. Die auch Ubichinon-10 genannte Substanz ist an der Entstehung von freien Radikalen im Körper beteiligt, zugleich aber auch an ihrer Entschärfung. Dass sie von außen aufgetragen den gleichen Effekt hat, halten Experten für unwahrscheinlich. Das einzige kosmetische Produkt, das erwiesenermaßen der Hautalterung vorbeugt, ist Sonnencreme – sie kann verhindern, dass sich unter der UV-Strahlung ein Übermaß an freien Radikalen bildet.

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        Denn erst im Übermaß, so glauben mittlerweile viele Forscher, schaden sie. „Das passiert zum Beispiel bei Entzündungsprozessen, aber auch bei Rauchern, bei Luftverschmutzung oder eben durch UV-Strahlung“, sagt Ursula Müller-Werdan, die unter anderem das Evangelische Geriatriezentrum der Charité in Berlin leitet.

        Denn neben den freien Radikalen, die als Teil des Stoffwechsels entstehen, gibt es auch solche, die sich erst durch äußere Einflüsse bilden. „Welche dieser beiden Gruppen den größeren Einfluss auf die Zellschädigung hat, ist unklar“, erklärt die Medizinerin. Man gehe davon aus, dass 20 bis 30 Prozent der Unterschiede im menschlichen Alterungsprozess auf genetische Unterschiede zurückgehen, ein großer Teil sei Zufall und der Rest werde durch äußere Faktoren wie etwa Strahlung und Umweltverschmutzung beeinflusst. „Die freien Radikale fallen in all diese Bereiche.“