Die meisten Besucher von Neuwerk bleiben nur ein paar Stunden. Um zu erfahren, wie Natur und Bewohner auf der Hamburger Insel ticken, muss man sich schon einquartieren, am besten vor oder nach der Saison. Irene Jung über die Kraft der Stille, in der man das Watt sogar hören kann.

Alles ist weit und flach. Vor den nickenden Pferdeköpfen dehnt sich das Watt wie ein geraffeltes Handtuch bis zum Horizont. Reisigpricken, die in einer endlosen Reihe aufrecht im Sand stecken, weisen dem Wattwagen die Route. Ab und zu traben die Pferde los und planschen flott durch einen Priel. Über unseren Köpfen kreischen Möwen. Zwei Stunden im frischen Nordseewind, und die Nasen leuchten rot wie Ampeln.

Die Pferde würden den Weg auch im Dunkeln finden, ruft der Kutscher Jan Brütt in den Wind, „aber im Dunkeln ist das Watt auch hell, immer heller als der Boden an Land. Am schönsten ist das Fahren bei Vollmond.“ Dann macht Brütt den Mund lieber wieder zu. Neuwerk-Besucher mit zwei PS durchs Watt zu fahren, ist für ihn Tagewerk, aber eine Erkältung holen muss man sich ja nicht.

Vor uns wächst unser Ziel allmählich aus einer Morgennebelbank wie eine Fata Morgana: der Turm. Je näher wir kommen, desto wuchtiger wirkt er. Obwohl er mit 38 Metern gerade mal ein Drittel so hoch ist wie die 110 Meter hohe Elbphilharmonie oder der 112 Meter hohe Rathausturm. Aber sonst ist hier ja alles flach wie Sülze. Auf alten Fotos um 1800 ist die Insel noch baumlos, heute ragen windverkrümmte Erlen und Eichen über den Deich. Der Turm von Neuwerk überragt sie alle, den Deich, die Eichen und das Watt, weithin sichtbar wie der Schauinsland einer alten Burg. Das ist er auch – eine Festung von 1310, das älteste Gebäude Hamburgs. Und für ein paar Tage mein Domizil.

Der Blick aus dem Turmzimmer in circa 20 Meter Höhe ist überwältigend

Zwar gibt es auf Neuwerk nur Pferdekutschen, Feuerwehrwagen, ein paar Trecker und zweieinhalb Straßen, aber eine große Kreuzung mit dem Schild „Hansestadt Hamburg“. Hier beginnt die alte Wurt, der Siedlungshügel aus dem Mittelalter, mit dem einzigen Insel-Laden, dem Schullandheim der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule, dem Nationalparkhaus und dem Turm in der Mitte. Um ihn zu erobern, braucht man elastische Beinmuskeln. Zuerst wuchten die Gäste ihre Koffer im Holzvorbau zwei Treppen hoch in die Wohnung von Turmwirtin Antje Göttsche, dann weiter rauf in die Zimmer. Die Turmmauern sind 2,80 Meter dick und verjüngen sich nach oben leicht auf zwei Meter. Deshalb hat mein gemütliches Turmzimmer auch eine tiefe Fensternische mit Sitzbank. Der Blick aus circa 20 Meter Höhe ist überwältigend. Wie ein grafisches Muster teilen Gräben die Inselwiesen bis zum Deich in Streifen, dahinter dehnt sich das blaugraue Nordseewasser. Hier kann ich sitzen und darüber nachsinnen, dass Menschen schon vor mehr als 700 Jahren von hier aus aufs Watt, die Wellen und die Wiesen geschaut haben. In der Ferne fährt gerade ein blaues Containerschiff Richtung Helgoland vorbei. Dass jetzt der Urlaub beginnt, zeigt mir ausgerechnet das Smartphone: In diesen Mauern hat es keinen Empfang. Nur wenn ich es am ausgestreckten Arm aus dem Fenster halte. Der Turm schirmt sie ab, die laute Welt draußen. Woanders heißt so was Romantikhotel.

Von draußen dringt heiseres Tuten durchs Fenster. Ein früher Schwarm von Nonnengänsen dreht am Himmel eine Schleife, bevor er wieder in den Wiesen landet. Während der „Gänsetage“ von April bis Mitte Mai wird Neuwerk zur Tankstelle für rund 6500 ziehende Wildgänse, die hier ihre Energiereserven aufladen. Im Frühjahr beginnen in den Salzwiesen des Vorlands unzählige See- und Watvogelarten zu balzen und zu brüten. Deshalb gehört das gesamte Gebiet um die Insel seit 1990 zum Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer. Es soll Leute geben, die Vogelbeobachtung blöd finden und dann nach einem Spaziergang durchs Vorland mit roten Backen von Austernfischern und Säbelschnäblern schwärmen: „Gepunktete Küken! Hab ich gesehen!!“

Der gemähte Pfad durch die Schutzzone 1 des Nationalparks führt fast einmal um die Insel herum. Im Sommer wachsen hier die Küken auf, gut versteckt zwischen Salzmiere, Strandhafer und Meersenf. Neben silbrigen Stranddisteln schweben ganze Teppiche blühender Kamille. Im Spätherbst dann präsentieren sich die Pflanzen im Farbenrausch eines „Indian Summer“: leuchtend gelbe Schlickgräser, rostroter Queller, grünes Salzgras. Auf den Holzlatten, die den Schlick binden sollen, sitzen Hunderte Silbermöwen neben schwarzen Kormoranen und starren auf die Nordsee. Es riecht nach Salz, Meer und Einsamkeit. Bevor die Saison richtig losgeht, trifft man nur wenige Menschen auf dem Pfad, ein paar Vogelkundler vielleicht. Und Bernsteinsucher.

Christel Backhaus hat an ihrer Heimorgel die Straße am Deich im Blick und öffnet ihre Tür sofort. Als sie mit ihrem Mann Gerd und zwei kleinen Kindern nach Neuwerk kam, wussten sie vom Bernstein noch nichts, erzählt sie. 1974 trat Gerd Backhaus die Stelle des Insellehrers an, Christel den Posten der Schulraumpflegerin. „Wir waren Mitte 30 und hatten das Gefühl, wir könnten hier mit unverbrauchten Kräften noch einmal anfangen“, sagt die heute 75-Jährige. „Und gleich in den ersten Wochen hab ich im Watt meinen ersten Bernstein gefunden.“

Für die gebürtige Ostpreußin bedeutete der Stein so etwas wie Heimat. „Von da an gehörte das Watt uns. Jede freie Minute haben wir dort verbracht.“ Sie hat sich sogar eine Schleifmaschine angeschafft, mit der sie die Steine zum Glänzen bringt und poliert. In 30 Jahren entstand die Bernsteinsammlung, die Christel Backhaus heute in ihrem Wohnzimmer zeigt. „Die Steine sind vor etwa 50 Millionen Jahren im Ostseegebiet entstanden. Die Erdverschiebungen der Eiszeit haben sie dann in die Elbmündung verfrachtet.“

Für die Kinder war das kleine Schiff der Hamburger Verwaltung die "Kotzbalje"

Leicht sei es am Anfang nicht gewesen auf der Insel, sagt Christel Backhaus. „Die Leute hier sind eigen, wissen Sie.“ Besonders schwer war es für sie im Winter, wenn Eis und Sturm das Watt versperrten, wenn niemand von und nach Neuwerk kommen konnte. Schon bei starkem Wind ist das oft schwierig. Als ihre Arbeit als Schulraumpflegerin 1999 endete, kamen zwei Damen vom Bezirksamt Mitte mit einem Blumenstrauß aus Hamburg. „Die Fahrt haben sie wohl nie vergessen“, sagt Christel Backhaus und lacht. Stundenlang waren die Damen bei stürmischem Wetter auf der „Hundebalje“ unterwegs, dem kleinen Schiff der Hamburger Schifffahrtsverwaltung, das die Kinder von Neuwerk „Kotzbalje“ nannten.

In den Fenstern der Inselschule nebenan sieht man noch Globusse und selbst gebastelte Pappmaché-Masken. Als Gerd Backhaus 2001 in den Ruhestand ging, war er 27 Jahre Lehrer auf Neuwerk gewesen, die zweitlängste Dienstzeit nach Hans Cors, der es 1909 bis 1959 sogar auf 50 Jahre brachte, während Cors’ Frau als Hebamme kleinen Neuwerkern auf die Welt verhalf. Seit zwei Jahren ist die Schule nun verwaist. Erst in drei Jahren wird das nächste Kind auf Neuwerk eingeschult.

Dann muss Hamburg wieder eine Lehrkraft einstellen. Vielleicht liest sie mit ihrem Schützling dann die alte Inselsage, die ein Leuchtturmwärter seinen Neffen erzählte: von der Neuwerker Prinzessin Augentrost und dem Blumenprinzen. Klar, die liebten sich. Aber der böse Wasserkönig von Wangeroog, ein Riese und Hexenmeister, wollte die Prinzessin selber. Rasend vor Eifersucht verwandelte er den Prinzen in einen Vogel und bedeckte das Reich der Prinzessin mit einem Sandberg. Nur einmal im Jahr wird der Vogel freigelassen und trägt ein Sandkorn fort ins Meer. So wird es noch Jahrmillionen dauern, bis Neuwerk wieder ein Königreich ist.

Mein persönlicher Watt-Test am nächsten Vormittag bestätigt das. Immer noch Sand, so weit das Auge blickt. Aber eine eintönige Sandwüste ist das Watt überhaupt nicht. Mal versinkt der Fuß im blaugrauen Schlick, mal reibt er sich an groben Kieseln, mal piekst weißer Muschelbruch, mal ist der Untergrund ganz hell und feinkörnig. Man kann das Watt sogar hören: ein ganz leises Zischeln, als atme der Boden überall.

In diesem warmen Frühjahr kann man schon prima barfuß laufen. Durch meine Zehen leuchtet ein knallgrünes Stückchen Meersalat. Eine Herzmuschel spuckt in hohem Bogen eingeschlürftes Wasser aus. Im Watt wird die Seele weit, sie kann gar nicht anders.

Geologisch gehört Neuwerk zu den jüngsten Kindern der Nordsee. Die Insel ist keine Geesthöhe, sondern ein Wattengebiet, das über eiszeitlichen Ablagerungen im Verlauf von Jahrhunderten noch einmal um rund 24 Meter aufgeschlickt ist. Es hat sich mal gehoben und mal wieder gesenkt. Erst die letzte Hebung machte es vor circa 1000 Jahren dauerhaft besiedelbar. „Nige O“ – auf Friesisch neue Insel – hieß das kleine Eiland 1286 in der ersten schriftlichen Überlieferung, als es noch eine Salzwiese mit ein paar Fischerbuden war. Die eigentliche Geschichte beginnt erst mit dem Turm, dem (Bau-)Werk. Er machte aus „Nige O“ das „Nige Wark“ – Neuwerk.

Antje Göttsche, 43, muss sich um ihre elastische Beinmuskulatur keine Sorgen machen. 1994 folgte die gebürtige Mecklenburgerin ihrem Mann, einem Neuwerker, auf die Insel und kümmerte sich als Angestellte Hamburgs zuerst um die Turmbesichtigungen. Als die Stadt 1997 einen Pächter für das Bauwerk suchte, griff sie kurz entschlossen zu und vermietet seither an Gäste sieben Turmzimmer, die sie selbst individuell eingerichtet hat. In der Saison entspricht ihr tägliches Stufenpensum buchstäblich dem eines mittleren Hochhauses. Bei schönem Wetter steigt sie auch alle 138 Stufen hinauf bis zur Aussichtsplattform, genießt den Weitblick oder guckt nach dem Wetter, bevor sie mit dem Wattwagen nach Cuxhaven zum Einkaufen fährt. So wie alle Neuwerker Quartiersgeber muss sie rechtzeitig alles, was ihre Gäste auf dem Frühstücksbüfett vorfinden sollen, vom Festland heranschaffen. Abends mal schnell zur Tanke oder eine Pizza bestellen – das geht auf Neuwerk nicht.

Im Oktober packt Antje Göttsche dann wieder ihre Koffer. Den Winter verbringt sie mit ihrem Mann und Sohn lieber zu Hause in Puls, einem Dorf bei Itzehoe. „Lange hab ich ganzjährig auf Neuwerk gewohnt“, sagt sie, „heute möchte ich das nicht mehr. In der Saison ist viel los. Aber danach? Man kann einmal um die ganze Insel spazieren, ein bisschen basteln und fernsehen. Das ist nicht gerade abendfüllend.“ Von Puls aus kann sie immerhin nach Hamburg zum Shoppen, zu Verwandten oder ins Kino fahren.

Während der Saison folgt jeder Tag auf Neuwerk einem festen Rhythmus, den nur die Gezeiten variieren. Bei Ebbe kommen allmählich die Wattwagen aus Cuxhaven-Sahlenburg heran, und der Hof auf der Wurt füllt sich. Die Leute steigen mit Kameras und Ferngläsern auf den Turm, trinken in Langes Inselladen Kaffee und wandern auf dem Deich einmal um die Insel – das dauert etwa eine Stunde. Dann haben sie Hunger. In der Turmschänke gibt’s Rührei mit Krabben und Bratkartoffeln, Matjes, Erbsensuppe und natürlich Eiergrog. In dem großen Saal mit den Kreuzgewölben, der früher mal der Lagerung von Strandgut diente, hängen heute alte Seestücke an den Wänden, auf einem Bord rundum stehen historische Segler-Modelle neben einer Lotsenmütze – einem Geschenk von Helmut Schmidt.

Wenn die Wattwagen-Gäste wieder weg sind, bringt das Fahrgastschiff MS „Flipper“ aus Cuxhaven die nächste Hundertschaft zum Anleger. Kaum einer lässt sich die stilvolle Turmschänke entgehen. Und alle Gäste fragen dasselbe: „Wo ist denn das Klavier?“

Alle fragen nach dem Klavier aus dem "Tatort" mit Manfred Krug

Nämlich das Klavier aus dem legendären Tatort „Tod auf Neuwerk“ vom März 1996. Da werden Manfred Krug und Charles Brauer als Kommissare Stoever und Brockmöller auf die Insel beordert, weil man im Watt die Leiche eines Hamburger Schifffahrtsdirektors gefunden hat. Die Ermittler stochern buchstäblich im Nebel, Neuwerk ist wie eine verschlossene Auster. Aber da gibt’s in der Turmschänke dieses Klavier! Mangels Alternativen machen Stoever und Brocki, beide Liebhaber alter Jazz- und Swingtitel, abends selber Musik, mit Mundharmonika, Gesang und Klavier. „Somewhere over the rainbow...“ Der alte Judy-Garland-Song begeisterte die „Tatort“-Fangemeinde.

Tja, nur: In Wirklichkeit haben die Film-Kommissare nicht im Turm, sondern bei Fock nebenan gewohnt. Und das Klavier haben sie damals per Schiff mitgebracht und hinterher wieder mitgenommen, sagt die frühere Turmwirtin Antonia Reber: „Die können ja nicht voraussetzen, dass man alles dahat, was sie brauchen.“ Immerhin erlebte die Turmschänke damals eine Uraufführung. Fünf Jahre später kamen die beiden Hamburger Tatort-Kommissare noch ein paar Kilometer weiter draußen zum Einsatz, auf der Insel Scharhörn, und sangen „Bye bye Blackbird...“

Lang ist’s her. Krug und Brauer machten 2001 Schluss mit dem „Tatort“, und Antonia Reber machte im Dezember Schluss mit Neuwerk. Seit Januar hat ihre Nachbarin Antje Göttsche die Turmschänke übernommen.

Vieles kam ein bisschen später als anderswo nach Neuwerk, nicht nur der „Tatort“. Erst 1826 gründeten die Inselbewohner ihre Schule, deren Lehrer unverheiratet sein mussten, weil sie reihum bei den Bauern durchgefüttert wurden – viele blieben nicht mal ein Jahr. Erst in den 1940er-Jahren bekam die Insel elektrischen Strom, erst 1964 eine Wasserleitung vom Festland. Aber als vor etwa 15 Jahren ein neues Kabel verlegt wurde, „da wurde gleich Glasfaser fürs Internet mit verlegt“, sagt Volker Griebel. Inzwischen haben fast alle Neuwerker Familien eine eigene Homepage, bestellen Bücher und Gummistiefel im Internet und schreiben Mails.

Griebel, 59, ist als Insel-Obmann das Bindeglied zwischen den Neuwerkern und dem 108 Kilometer entfernten Bezirksamt Mitte, das für sie zuständig ist. Sein „Reich“ ist klein: eingedeichte 3,5 Quadratkilometer, fünf Gästehäuser, zwei Landschulheime, zwei Briefkästen, drei Telefonzellen, circa 50 Pferde, fünf Schweine, etwa 60 „Gastkühe“ vom Festland, die im Herbst wieder abgeholt werden. Kein Arzt, keine Apotheke, aber ein funktionierender Notdienst mit dem Hubschrauber von Cuxhaven, der sogar anfliegt, wenn jemand starkes Nasenbluten hat.

Und die geringste Kriminalitätsrate Hamburgs. Vor ein paar Jahren klaute ein Gast auf Neuwerk eine Geldtasche, kam aber nicht weit: Er wurde schon im Zug in Otterndorf gefasst. Man kann sagen: Neuwerks Verwaltung ist modern, effektiv und so schlank, dass andere Hamburger Stadtteile davon nur träumen können.

Das liegt natürlich daran, dass die Insel nur noch 36 Einwohner hat. In früheren Jahrhunderten waren es doppelt so viele. Wenn man ein Dutzend Kinder und Jugendliche abzieht, die ab der vierten Klasse das Internat in Bederkesa auf dem Festland besuchen oder anderswo eine Ausbildung machen, bilden 24 Erwachsene heute die gesamte Inselbelegschaft. Die Kinder kommen nur an den Wochenenden nach Hause – wenn nicht das Wetter einen Strich durch die Rechnung macht wie Anfang November, als die Priele vollliefen und die Fahrt mit dem Trecker zu riskant war.

Scharhörn und Nigehörn wirken bei Sturmfluten wie Wellenbrecher

Nur einmal, bei der schweren Sturmflut 1976, hat Volker Griebel es erlebt, dass Frauen, Kinder und Gäste in den Turm flüchten mussten, so wie in den Jahrhunderten zuvor. Währenddessen versuchten die Männer zu retten, was zu retten war. Im Inneren der Insel stand das Wasser schon einen Meter hoch, die Brandung riss Löcher in den Deich. „Gebrochen ist er zum Glück nicht. Aber das war schon eine sehr schwierige Situation“, sagt Griebel. „Wir hatten 70 Tiere auf dem Hof. Die lässt man ja nicht einfach absaufen. Wer behauptet, er hätte da keine Angst gehabt, der lügt.“ Dass auch bei späteren Sturmfluten nichts Schlimmeres passiert ist, verdanke Neuwerk der vorgelagerten Sandbank Scharhörnplate mit den Vogelschutzinseln Scharhörn und Nigehörn: „Die wirken wie zwei Wellenbrecher.“

Die Griebels sind seit 1872 auf Neuwerk ansässig und die am stärksten vertretene Familie, wie ein Heimatforscher feststellte. Schon 1890 suchte sich nur einer von vier Neuwerkern seine Frau auf der Insel. „Wir sind gut gemixt“, findet Griebel. Seine Mutter beispielsweise stammt vom Rhein, seine Frau Afra aus Itzehoe. Bevor er 1974 den elterlichen Hof auf Neuwerk übernahm, war Griebel Gestütswärter und brachte in Köln als Jockey Galopper ins Ziel. „Aber man hätte mir nur sagen müssen: Da geht’s nach Neuwerk, und ich wär losgerannt.“

Auf der Insel muss man schon „mit sich selbst etwas anfangen können“, sagt Griebel. Die Winter nutzt er, um mal wieder zu lesen, zuletzt in der Biografie von Barack Obama. Oder er fährt mit Frau, Kindern und Enkelkindern selbst in den Urlaub. „Wir haben es schon mit den Bergen versucht, aber das war nichts“, sagt er. „Kuba hat uns gefallen. Wir brauchen Wasser. Einmal Insel, immer Insel.“

Nach ein paar Tagen bin ich tiefenerholt. Ich streichle die dicken, schweren Wattwagenpferde mit klodeckelgroßen Hufen, die aussehen wie Hans und Lotte, obwohl sie heutzutage Dana oder Amadeus oder Püppi heißen. Ich zähle die Feldhasen, die zwischen den Wildgänsen herumhopsen. Jeden Tag gucke ich vom Turm und prüfe das Wetter. Als das Smartphone mal Empfang hat, will ein Freund wissen: „Was machst du denn so auf Neuwerk?“ Und ich sage: „Warum muss man eigentlich im Urlaub immer was machen?“