Sylt im Winter dagegen ist etwas für Kenner. Jetzt trennen sich die Schönwettertouristen von den wahren Fans der Insel

Korrekt hätte es heißen müssen: Komm, wir gehen Fisch essen und lassen uns dabei von Haien beobachten. Meine Info war lediglich: Wir gehen Fisch essen. Dieser fehlende Zusatz steckt nun wie eine Gräte im Hals. Die ersten Bissen schmecken nach Angst und schlechtem Gewissen. Sehen die Haie, dass wir einen seiner Freunde verputzen? Sind sie neidisch und bekommen ebenfalls Hunger? Wie dick ist das Fenster, das Mensch und Fisch voneinander trennt? Die Titelmusik von „Der weiße Hai“ taucht in meinen Kopf ein, dreht ein paar Runden. Die Angsthasen-Attacke wird schließlich beendet durch einen knapp Zweijährigen. „Hallo! Hai!“, schreit er den unzähligen Zähnen entgegen und patscht beherzt an die Scheibe. Wäre er im Wasser, würde er Riff- und Zebrahai, die hier im Aquarium von Sylt ihre Runden drehen, mit Sicherheit umarmen.

Sonnabends bietet das Aquarium in Zusammenarbeit mit dem angeschlossenen Restaurant 49er Aldente als Besonderheit für seine Gäste ein Dinner direkt bei den großen, gefährlichen Fischen an. Kinder lieben es, wenn das Essen auf diese Art und Weise ins Wasser fällt. Wer fände es nicht interessant, bei einer Portion Fischstäbchen die Stacheln des giftigen Strahlenfeuerfisches zählen zu können?

Nach dem Meer von innen folgt das Meer von außen. Ein Strandspaziergang auf Sylt im Winter hat immer etwas Dramatisches, als würde man gegen einen zu kalt eingestellten Monster-Fön antreten. Eine schöne Übung für jeden, der es im Job nicht aushält, wenn der Wind zu stark von vorn kommt. Ein paar Sylt-Wochenenden im Januar oder Februar – schon fühlt man sich für jede heftige Auseinandersetzung gewappnet. Wer dennoch friert, der nehme sich ein Beispiel an den Galloways und Pferden, die selbst bei Minusgraden 365 Tage im Jahr draußen bleiben. Manche tragen wasserundurchlässige Decken, aber die sind nur Zierde für die Touristen, die sich über die angebliche Herzlosigkeit der Besitzer beschwerten. Dabei sind die Viecher wie geschaffen für ein Leben im Freien. Die zotteligen Galloways können ihren Stoffwechsel der Jahreszeit anpassen. Und zu fressen gibt es inzwischen auch genug, weil kaum mehr Tiere auf der Insel leben. Früher gab es Zeiten, da musste Heu fast so teuer wie Champagner eingekauft werden. Prost Mahlzeit! Die Sylter Tiere sind außerdem gute Wetterfrösche. Wer wissen möchte, ob das Eis hält, um darauf Schlittschuh zu fahren, muss sich an den Enten orientieren. Solange sie noch eine Ecke vom Dorfteich in Wenningstedt freihalten, ist es zu gefährlich. Verziehen sich die Enten an Land, kann man losschlittern.

Wenn das Draußen so auf cool macht, wird das Drinnen umso gemütlicher. Besonders die Kupferkanne hat mit ihrer verwinkelten, niedlichen Architektur etwas vom Haus der sieben Zwerge. Ideal zum Versteckenspielen oder „Schneewittchen“-Vorlesen. Die Kuchen glänzen mit einer Größe, die besonders diejenigen Herren freut, die mit einer „Nein-danke-ich-probiere-nur-mal-bei-dir“-Frau zusammen sind.

Wer sich zum Kaffee noch Kultur wünscht, setzt sich vor den Kamin des Hotels Arosa in List, wo derzeit der Hamburger Künstler Michael Götze ausstellt. Schon mit acht Jahren hatte er seine erste Kamera in der Hand. Seine Motive sind der Rückzug und der Aufbruch, die Natur, die Wurzeln und das Urbane. Seine großformatigen Fotos (siehe oben) strahlen eine solche Ruhe aus, dass sich der Herzschlag beim Beobachten verlangsamt. „Eigentlich entstehen meine wirklich guten Sylt-Bilder im Winter“, sagt Götze. „Das Licht hat Klarheit und doch Wärme, die Wolken eine tolle Zeichnung, und die Insel öffnet sich einem leichter, als sie es im Sommer tut. Vielleicht, weil man sie mit weniger Erwartung betritt – und das belohnt sie.“

Wer nicht so nach Ruhe und Besinnung sucht, der findet auf Sylt anders als auf anderen Nordseeinseln, die komplett im Winterschlaf versinken, zu jeder Uhrzeit Sozialsysteme. Plötzlich steht man wieder mitten im Leben, gerät in ein lautes Hallo! Sonnabendnachmittags zum Beispiel im Odin in Kampen. Wer die limitierte Louis-Vuitton-Handtasche, die man sonst nur aus der Werbung mit Michelle Williams kennt, mal live sehen möchte, hat hier große Chancen, fündig zu werden. Einfach mal die Moncler-Jacke an den Haken hängen, eine Erdbeerheidi bestellen und gucken, was passiert. Fünf Minuten später hat man neue Freunde aus Paderborn, deren Hund Herr Willi heißt und deren Sohn genau hier mit 15 zum ersten Mal betrunken war.

Man erfährt auch anderen Privatkram, ungefragt. Es ist angenehm, den Leuten mal nichts aus der Nase ziehen zu müssen. Sie reden, sie lachen, sie unterhalten. Dass wir uns nicht kennen, spielt keine Rolle, denn man hat auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit: Wir sind sogar im Winter da. Wir sind keine Schönwetterurlauber. Sylt im Sommer, das kann jeder. Sylt im Winter, da trennt sich die Spreu vom Weizen, da bleiben nur die wahren Fans über, die echten Kenner, die, die sich schon fast auf einer Ebene mit den knapp 20.000 Einwohnern sehen. Die Sylt-Touristen-Elite. Gänsehaut-Feeling unter Gleichgesinnten. „Noch eine Erdbeerheidi, Frau Yvonne?“ Klar, meine neuen Freunde. Und mein Sohn bekommt die alkoholfreie Variante, Selters anstatt Secco. „Virgin Erdbeerheidi, wo gibt’s denn so was?“ Im Odin; nicht jeder Junge soll hier betrunken werden.

Er könnte stattdessen etwas lernen. Wie im Kinderspiel funktioniert das im Erlebniszentrum Naturgewalten List. Der 11,5 Millionen Euro teure Bau in der Hafenstraße wurde vor fünf Jahren eröffnet, ist jeden Tag geöffnet (nur Heiligabend wird um 14 Uhr geschlossen) und ein echter Renner: 120.000 Besucher jährlich – selten konnten die Thematiken Umwelt und Naturschutz so begeistern. Ein Grund sind die vielen interaktiven Elemente – und dass sogar kleine Kinder hier schon Spaß haben. Es gibt ein riesiges Vier-gewinnt-Spiel, eine eigene Kindertonspur, in der komplizierte Dinge einfach erklärt werden, einen Außen-Spielplatz, ein Seetierbecken (ab Ostern geöffnet), ein Bistro, das absichtlich wie von einem Tornado zerstört aussieht, und Witze: Fragt der Mond die Erde: „Wie geht’s?“ Sagt die Erde: „Nicht gut, ich habe Homo sapiens.“ Darauf der Mond: „Ist nicht schlimm, das geht schnell vorbei.“

Auch Philosophen wie Kant kommen zu Wort, wussten sie doch schon früh, wie das Leben mit Naturgewalten zu betrachten ist: „Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.“ Die Besucher können nach dem Rundgang durch die drei Bereiche – manche finden es selbst erstaunlich, wie viel sie sich merken konnten – Fragen beantworten wie: Was ist Seegang? Warum sind die Tentakeln der Nesselqualle nach ihrem Tod noch gefährlich? Wie entstehen Wellen? Wie funktioniert eine Tsunami-Warnung in Delfin-Sprache? Warum kommen Kegelrobben mit weißem Fell auf die Welt? Das Erlebniszentrum Naturgewalten (von den Einheimischen liebevoll ERNA abgekürzt) verfügt sogar über ein Hollywood-Katastrophenfilm-ähnliches Element: den Sturmraum. Dort erfährt der tapfere Besucher, wie sich Windstärke 9 anfühlt. Sogar den Standhaftesten bleibt hier die Luft weg. Außerdem erfährt man einiges über die besonderen Klimaverhältnisse auf der Insel.

Sylt liegt geografisch auf der gleichen Höhe wie der Südzipfel Alaskas. Auf einen Kubikzentimeter kommt kaum ein Staubkorn, mit jedem Atemzug werden Salz, Jod und Spurenelementen in die Lunge gepustet. Die Durchschnittstemperatur im Februar beträgt ein Grad, doch man sollte den Westwind nicht unterschätzen. „Zehn Grad fühlen sich manchmal an wie null Grad“, sagt Walter Körnig vom Erlebniszentrum. Der 29-jährige Geograf glaubt, dass die Insel ein Sommer- und ein Wintergesicht hat: „Im Winter sind die Gäste entspannter, vielleicht weil sie kein großes Programm durchziehen, vielleicht weil sie den Strand für sich alleine haben. Auf jeden Fall fährt man hier von 180 auf 50 runter.“

Es sei denn, die größte Party des Jahres steht vor der Tür. Der Höhepunkt des Winters findet am 21. Februar statt, dann feiern die Sylter ihr Nationalfest, das Biikebrennen. In allen großen Orten werden riesige Holzstapel entzündet, indem die Kinder nach dem Aufruf „Tjen di Biiki ön!“ ihre Fackeln hineinwerfen. Die Flammen sollten früher die Götter besänftigen. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurden so die Walfänger verabschiedet, und heute geht es bei dem Umzug, dem Feuer und dem anschließenden Grünkohlessen darum, den Winter zu vertreiben. Doch, wir wollen ehrlich sein, das klappt nicht immer, wie auch Walter Körnig zugeben muss: „Der echte Winter kommt eigentlich erst danach.“