Gerade im Oktober ist die Stadt für die Vögel attraktiv, weil sie Nahrung und ruhige Plätze an Gewässern bietet. Manche Gänse kommen nur zur Rast, andere bleiben über den Winter.

Hamburg Mitte des 20. Jahrhunderts waren sie in Norddeutschland am Rande des Aussterbens. Inzwischen bevölkern Graugänse wieder die Stadt. Viele, die den Spätsommer an der Elbmarsch, der Ostsee oder sonst wo im erweiterten Umland verbracht haben, finden sich jetzt in der Stadt ein, verstärkt durch vereinzelte arktische Bläss- und Saatgänse, die sich der grauen Verwandtschaft anschließen. „Der Oktober ist ein gänsereicher Monat“, sagt Simon Hinrichs, die städtischen Gewässer und Rasenflächen zögen die Vögel jetzt besonders an. Hinrichs ist einer von zwei ehrenamtlichen Mitarbeitern der Vogelwarte Helgoland, die in Hamburg Graugänse (Anser anser) beringen.

Etwa 270 Grauganspaare brüten in Hamburg, rund die Hälfte in städtischer Umgebung (u. a. Alsterbereich, Eppendorfer Moor, Bramfelder See, Ohlsdorfer Friedhof), die andere Hälfte etwas außerhalb (u. a. Öjendorf, Duvenstedt, Kirchwerder). Weitere, nicht brütende Vögel bevölkern Parks sowie die Außen- und Binnenalster. „Die Alster ist attraktiv für Graugänse“, sagt Hinrichs. „Sie ist ein ruhiges Gewässer mit kleinen Inseln. Die umgebenden Parkanlagen bieten Nahrung, und ab und zu fällt Futter aus Menschenhand ab.“ An Boote und Schiffe hätten sich die Tiere längst gewöhnt und nehmen sie nicht als Gefahr wahr, so Hinrichs. Auch vor Menschen zeigten sie wenig Scheu (in Unkenntnis des Martinstages). Anders die Artgenossen im Umland: Sie nehmen schnell Reißaus, wenn sich Menschen nähern.

Die geborenen, pardon die geschlüpften Hamburger sind zu veritablen Stadtvögeln geworden. Nach der Brutzeit kreuzen die Familien schon mal im Gänsemarsch belebte Straßen, etwa auf dem Weg vom Eppendorfer Moor zu den Alstergewässern. Die Grasfresser schlagen sich in Parks, auf Sportplätzen und sogar auf Verkehrsinseln die Mägen voll. Auch Autos werden nicht als Bedrohung empfunden – womöglich eher als Beschützer. Denn der fließende Verkehr hält die größten Feinde der Stadtgänse, Hunde und Füchse, von den Inseln fern.

Städtische Grünflächen sind gerade im Herbst bei den Wasservögeln sehr beliebt. Hinrichs: „Durch das etwas wärmere Klima bleiben die Rasenflächen länger grün. Und in den Parks wird es ruhiger. Das Grün ist jetzt frei von Menschen, die Picknick machen, in der Sonne baden oder Sport treiben. Dadurch haben die Gänse freie Bahn.“ Allmählich gehen auch viele Sportplätze in die Winterpause – ein gefundenes Fressen für die Graugänse, die als Gegenleistung die Graskost zu Rasendünger für das kommende Frühjahr verdauen. Und: Parks und Sportplätze sind „befriedete Gebiete“, in denen Gänse in der Regel nicht bejagt werden.

Einige Hundert Gänse dürften sich derzeit in Hamburg aufhalten, viele sogar in der City. Hinrichs hat in dieser Woche zwei „starke Trupps“ von jeweils um die 50 Vögel im Bereich Planten un Blomen sowie im Alstervorland beobachtet. Seit Ende September zögen Graugänse aus der Elbmarsch zurück in die Stadt, so Hinrichs. In dieser Zeit lassen sich Tausende arktische Wildgänse in der Elbregion nieder. Ob die Graugänse auf dem weitläufigen Marschland den nordischen Gästen das Feld räumen, ist nicht bekannt.

Nicht alle Graugänse der Umgebung schlagen den Weg nach Hamburg ein. Manche ziehen auch westwärts Richtung Niederrhein, einem wichtigen Rast- und Überwinterungsgebiet von mittel- und nordeuropäischen sowie arktischen Wildgänsen. Und diejenigen, die jetzt in die City einschweben, bleiben nicht unbedingt über den Winter, sondern nutzen die Futterkrippe Stadt womöglich nur als Rastplatz auf dem Weg zum Niederrhein.

Gerade Gänse, die in Hamburg schlüpften und aufwuchsen, zeigen ein vielfältiges Zugverhalten, das Hinrichs und sein Kollege Hans-Joachim Hoff durch die Beringung von Junggänsen erforschen. Denn die Vorfahren der Vögel waren Park-, Zoo- oder gefangene Wildvögel, die in den 50er- und 60er- sowie Anfang der 80er-Jahre in Hamburg ausgewildert wurden, um die Art wieder anzusiedeln. Die ausgesetzten Fremdlinge wussten damals nicht, wo sie sich befanden, sie hatten weder ihren Lebensraum noch die Zugstrategie von ihren Eltern lernen können. Deshalb erschlossen sie ihre neue Umgebung auf eigene Faust und entwickelten eigene Zugstrategien, die sie dann an ihre Nachkommen weiterreichten.

So gibt es unter den Gänsepaaren, die am Osterbekkanal brüten, welche, die sich dort nur zur Brut sehen lassen und andere, die am Kanal überwintern. Hinrichs und Kollegen haben unter den Hamburger Gänsen sechs Zugtypen ausgemacht: Typ eins ist ein Standvogel, bleibt also das ganze Jahr über der Stadt treu. Typ zwei brütet hier und bleibt bis Ende September. Typ drei kommt nur zum Brüten und zur Mauser (Mai/Juni). Typ vier reist ebenfalls im Juli ab, kommt aber im Oktober wieder und bleibt über den Winter. Typ fünf ähnelt Typ vier, beschränkt aber den herbstlichen Stadtbesuch auf Oktober und überwintert woanders. Typ sechs kommt nur zum Mausern nach Hamburg (Mai/Juni).

Wie sehr die Gänseeltern ihren Nachwuchs prägen, zeigte schon Verhaltensforscher Konrad Lorenz mit seinem Gänsekind Martina und vielen weiteren handaufgezogenen Gössel, die ihm auf Schritt und Tritt folgten. In der Natur hat nicht jedes Gänsekind das Glück, bis zum Erwachsenwerden in elterlicher Obhut aufzuwachsen. Gerade auf den weiten Zugwegen der arktischen Gänse geht das eine oder andere Jungtier verloren. „Eigentlich hält der Familienverband bis zum Frühjahr“, sagt Simon Hinrichs, „aber schlechte Sicht, Hindernisse wie Stromleitungen oder Windräder, Attacken durch Seeadler oder Beschuss durch Jäger können dazu führen, dass Jungvögel den Kontakt zu ihren Eltern verlieren.“

Es komme vor, dass solche Waisenkinder auf ihrem Zugweg in Hamburg landen, weil sie hiesige Grauganstrupps entdeckt haben, denen sie sich anschließen. Hinrichs: „Graugans-Familien nehmen den artfremden Vogel in der Regel problemlos auf. Die arktischen Neubürger lernen von den Graugänsen, dass von Menschen keine Gefahr ausgeht. Sie zeigen dann ebenso wenig Fluchtverhalten wie die Städter.“ Allerdings bleiben die Adoptivkinder oft nur einige Tage oder Wochen bei ihren Gastfamilien. Spätestens zur Silvester-Böllerei wird es ihnen zu unheimlich, und sie verlassen die Stadt.

Ein weiterer Magnet zieht derzeit Gänse nach Hamburg: „Dieses Jahr gibt es viele Eicheln, die sie gern fressen“, sagt Hinrichs. In solchen Jahren würden sich allein an der Außenalster bis zu 100 Graugänse zusammenfinden. Im November lösen sich die Trupps oft auf, viele Gänse zieht es dann wieder ins Hamburger Umland. Doch manch schlauer Vogel erschließt sich stattdessen ein absolut zuverlässiges innerstädtisches Futternapf: Er lässt sich am Eppendorfer Mühlenteich nieder, wo die Alsterschwäne mit Getreide durch die kalte Jahreszeit gefüttert werden.

Hamburger Gänse im Internet

www.gans-hamburg.info