Trotz der Erfolge der bundesweit 3000 diplomierten Therapeuten an 800 Kliniken ist keine Krankenkassenabrechnung möglich

Über die Kraft der Musik und ihre therapeutischen Möglichkeiten sprach das Abendblatt mit Professor Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt, Mitbegründer und Direktor des Instituts für Musiktherapie der Musikhochschule Hamburg bis 2010.

Hamburger Abendblatt: Was kann Musik positiv bewirken?

Hans-Helmut Decker-Voigt: Ist eine zum Beispiel ruhige Musik, die jemand hört, positiv für ihn besetzt, löst das die Freisetzung von Beta-Endorphinen aus, die zur Senkung des Grundumsatzes führen und zur Schlafbereitschaft, kurzum zur Entspannung und zu Glücksgefühlen. Diese Wirkungen werden vor allem in der Musikmedizin bei der Anästhesie genutzt. So können wir die gegebenen Anästhetika bis zu 70 Prozent senken, nur durch die Trancewirkung, die Musik für den Patienten hat.

Hören wir heute genug Musik?

Decker-Voigt: Wir konsumieren Musik mehr als je zuvor, aber wir hören sie immer weniger, hören ihr weniger zu. Dabei besteht eine wachsende Sehnsucht nach Musik, im seelischen Zuhören ebenso wie im aktiven Gestalten. Der Mensch ist nun auch wissenschaftlich erwiesen gesünder, wenn er Musik macht.

Hat die Wirkung von Musik nicht immer auch zwei Seiten?

Decker-Voigt: Alles, was wirkt, kann konstruktiv und destruktiv eingesetzt werden. Mit den positiven Wirkungen von Musik arbeiten bundesweit rund 3000 Musiktherapeuten, und wir alle leben mit Musik und lieben sie. Auf der anderen Seite kann Musik auch stören, schaden und sogar bis zum Tod führen. Mit Musik wurde in der Ming-Dynastie gefoltert. Dauerbeschallung mit extrem lauter Musik oder Musik, die gerade unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, kann uns krank machen, kann uns foltern. Im Krieg dient Musik seit Jahrhunderten auch zur Steigerung der Aggression und zur manipulativen Hebung der Truppenmoral. So beschleunigt schnelle Musik den Kreislauf, verändert Blutdruck, Herzrhythmus, Atmung sowie alle EKG-und tomografischen Ergebnisse. Heavy Metal und Techno können tranceartige Zustände hervorrufen und in einem Rhythmus gegen den Herzschlag sogar bis zum Tod führen.

Welche Bedeutung kann Musik haben?

Decker-Voigt: Dass Musik wirkt, war immer schon deutlich, nur nicht wie heute analysierbar. Die Sucht nach "Beat" ganz allgemein im Sinne jeder schlagbetonten Musik etwa im Pop ist psychologisch immer auch ein Zeichen für Sehnsucht nach Geborgenheit. Denn jeder regelmäßige Rhythmus erinnert an den mütterlichen Herzschlag, den wir bereits als Fetus in der Schwangerschaft speichern.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Musiktherapie?

Decker-Voigt: Nach vier Jahrzehnten ist die Musiktherapie in Deutschland als Therapieform etabliert. Hamburg war mit Heidelberg zusammen die erste hochschulische Ausbildungsstätte. Hier wurden auch bisher die meisten Doktorarbeiten geschrieben, deren Autoren heute die zwölf Musiktherapie-Studiengänge im deutschsprachigen Raum leiten. Aber bei allen Erfolgen in Wissenschaft, Forschung und der täglichen Arbeit von bundesweit 3000 diplomierten Therapeuten an insgesamt 800 der rund 1000 Kliniken ist für ambulant arbeitende Kollegen immer noch keine Krankenkassenabrechnung möglich. Eine Therapiesitzung kostet je nach Berufserfahrung des Therapeuten zwischen 30 und 65 Euro. Es lässt sich jedoch Bewegung feststellen. So sind einige private Kassen, Firmen- und Genossenschaftskrankenkassen bereit, Kosten zu übernehmen. Es fehlt allerdings noch eine breite gesetzliche Verankerung der eigentlich lächerlich wenigen Musiktherapeuten in unserem Gesundheitssystem.