Berlin. Auch die Grünen erwägen den weiteren Einsatz von Atomkraft gegen Wladimir Putins Erpressung. Das ist richtig so. Ein Kommentar.

Ganz langsam robben die Grünen auf eine Entscheidung zu, die das Mark der Partei berührt. Es geht um die Atomkraft und die sich abzeichnende Erlaubnis, mit den drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerken Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 weiter Atomstrom zu produzieren. Auch über den festgesetzten Endzeitpunkt 31.12. dieses Jahres hinaus.


Egal, wie viele Fußnoten die Grünen dazu formulieren und egal, ob das Unterfangen am Ende Laufzeitverlängerung oder "Streckbetrieb" heißt. Für die Grünen ist das ein gewaltiger Schritt und man muss anerkennen, wie viel Pragmatismus in Teilen der Partei steckt, wenn sie unter dem Druck des Regierens steht und nicht auf der Oppositionsbank die Welt bekehren will.

Atomkraft: Alle Energiequellen müssen zusammengekratzt werden


Wie bitter nötig diese Kehrtwende ist, zeigt das Katz-und-Maus-Spiel, das Putin mit Deutschland spielt. Dass nur noch zwanzig Prozent Gas durch Nordstream 1 kommen sollen, darf niemanden überraschen. Russlands Präsident will – anders als alle seine Vorgänger – Energie als Waffe einsetzen. Daher müssen jetzt alle Energiequellen zusammengekratzt werden, damit die Erpressung so wenig wie möglich Wirkung zeigt.

Jörg Quoos, Chef der Zentralredaktion
Jörg Quoos, Chef der Zentralredaktion © Dirk Bruniecki


Eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten ist dabei sicher das kleinste Übel und man muss kein Atomfreund sein, um diesen Schritt richtig zu finden. Bei der drohenden Energieknappheit wäre es verantwortungslos, funktionierende Energieträger zu streichen. Die Atomkraft in Deutschland war zuverlässig und hätte mit einem verantwortungsvolleren Entsorgungskonzept wahrscheinlich auch in Zukunft einen Platz im Energiemix haben können. So wie bei vielen unserer europäischen Nachbarn auch.


In Deutschland wurde die friedliche Nutzung der Kernkraft nach Fukushima und am Vorabend der Baden-Württemberg-Wahlen ausgerechnet von der Physikerin Angela Merkel abgeräumt. Die Kanzlerin glaubte zwar 2011 noch an die Zuverlässigkeit der Technik, aber nicht mehr an ihre Akzeptanz bei den Menschen. So kann man sich irren.

Für Grünen-Führung ist Schwenk nicht ungefährlich


Baden-Württemberg bekam nach dem Fukushima-Desaster trotz der Unionswende mit Winfried Kretschmann den ersten grünen Ministerpräsidenten. Und nach Lage der Dinge werden die Grünen einer eingeschränkten Verlängerung zustimmen. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten?


Für die Grünen-Führung ist dieser Schwenk allerdings nicht ungefährlich, denn die Anti-Atom-Haltung ist Ur-DNA der Partei. Der Aufkleber „Atomkraft? Nein danke“ hat am Heck der Familienkutsche ganze Generationen als Grünenwähler geoutet. Wer jetzt plötzlich – warum auch immer – „Atomkraft? Ja bitte“ sagt, muss sich auf harte Debatten einstellen.


Doch nicht nur bei den Grünen wird am Ende die Vernunft siegen. Auch in der Bevölkerung ist eine befristete Laufzeitverlängerung mehrheitsfähig, das zeigen aktuelle Umfragen. Zu groß ist die berechtigte Sorge, dass es am Ende für private Verbraucher und die Industrie, an der Millionen Arbeitsplätze hängen, nicht reicht. Dazu kommt, dass der Atomstrom vor dem Hintergrund des Klimawandels seinen Ruf deutlich verbessert hat, anders als verstromte Braunkohle, die wir auch weiter brauchen.


Der Kanzler Scholz muss die Gunst der Stunde jetzt nutzen und die längere Laufzeit politisch durch die letzten Hürden manövrieren. Denn eines ist sicher: So sehr wir jetzt auch schwitzen – der nächste Winter kommt bestimmt. Und ohne ausreichend Energie werden wir ihn alle gemeinsam nur schwer überstehen.

Dieser Text erschien zuerst auf waz.de

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