Hamburg. Mit Abendblatt-Kolumnist Hajo Schumacher und der Hamburger Sexualtherapeutin Katrin Hinrichs starten wir ein neues Format.

Warum haben Erwachsene solche Probleme damit, offen über (ihre eigene) Sexualität zu sprechen? Was sind Themen, über die die Menschen schweigen? Und wie lässt sich das ändern? Das sind neben vielen kleinen die drei großen Fragen, die Hajo Schumacher und Katrin Hinrichs in einem neuen Abendblatt-Podcast für Erwachsene erörtern und hoffentlich beantworten.

„Ich frage für einen Freund“ heißt die neue Reihe, die nun erstmals auf abendblatt.de zu hören ist. Hajo Schumacher kennen viele Abendblatt-Leserinnen und -Leser als Politik-Journalisten, Kolumnisten und Lauf-Experten. Katrin Hinrichs ist klinische Sexualtherapeutin mit Praxis in Eppendorf. Zum Start von „Ich frage für einen Freund“ veröffentlichen wir das erste Gespräch der beiden an dieser Stelle.

Hajo Schumacher Hallo Katrin, schön, dass du da bist, dann bin ich nicht ganz so allein. Warum willst du über Sex reden, warum machst du einen Podcast?

Katrin Hinrichs Mir macht es Spaß, Menschen für mein Thema zu gewinnen, weil ich das Gefühl habe, dass es sehr viele Wissenslücken gibt. Und es ist noch mehr Handlungsbedarf da.

Handlungsbedarf? Sehe ich bei mir überhaupt nicht. Alles tipptopp. Deswegen heißt der Podcast auch: Ich frage für einen Freund. Der traut sich nämlich nicht, zu fragen. Stell dich meinem Freund doch mal bitte vor.

Keine Sorge, die Mutlosigkeit deines Freundes ist ziemlich normal. Mein Name ist Katrin Hinrichs, ich bin klinische Sexologin und betreibe eine Praxis für Frauen und Männer, für einzelne Klienten und auch für Paare.

Also für Menschen wie mich, seit 26 Jahren verheiratet, Vater zweier Söhne, meist männlich, überwiegend heterosexuell. Mit Sex habe ich überhaupt keine Probleme, das läuft alles wie am Schnürchen bei mir. Wenn mein Freund in deine Praxis kommen würde, wie muss man sich das vorstellen. Darf der seine Sachen anlassen? Ist da so ein rotes Licht?

Es ist nicht wie im Swingerclub „Alle Neune“, so kann man sich das nicht vorstellen. Ich habe ein Zimmer für Einzeltherapie und eines für Paare. Wenn meine Klienten die drei Stockwerke hochkommen, höre ich manchmal ihr Herz klopfen. Denn zuvor haben die sich schon Gedanken gemacht. Man geht ja nicht mal eben zu einer klinischen Sexologin, um zu gucken, was es Neues gibt. Meistens haben die Nöte, und der Besuch bei mir ist eine aufregende Sache. Das muss man sehr ernst nehmen.

Was wollen die Klienten zuerst wissen?

Der erste Kontakt läuft meist über E-Mail, viele wollen vor dem persönlichen Treffen mit mir telefonieren, was ich gut nachvollziehen kann. Mit einer wildfremden Person über sehr, sehr persönliche Dinge zu sprechen ist nicht einfach. Kann ich dieser fremden Frau wirklich das sagen, was ich vielleicht schon seit langer Zeit mit mir herumschleppe?

Wie viele sagen den Termin wieder ab?

Gar nicht viele. Ich finde das nicht gut, aber habe auch großes Verständnis dafür, wenn es mal passiert. Meine Erfahrung ist: Wenn jemand einmal da war, dann kommt der immer wieder, und das macht mich sehr glücklich.

Mein Freund sitzt jetzt im Zimmer für Einzelbehandlung bei dir. Er guckt sich so um und stellt fest, dass alles normal ist, wie beim Psychologen. Dann wartet er so vor sich hin. Und du guckst ihn prüfend an und sagst: Na guter Mann, wo drückt der Schuh?

Ich versuche das etwas anders. Ich lasse die Menschen erst einmal ankommen, und frage sie dann, was ihr Projekt ist. Ich nenne es extra so. Wenn ich eine Frau zu Gast habe mit Lustlosigkeit, ist ihr Projekt, das anzugehen und zu ändern.

Projekt im Sinne von Aufgabe?

Genau darum geht es.

Wie viele Männer und wie viele Frauen kommen zu dir?

Das wechselt. Vor Weihnachten kommen mehr Männer, vor den Sommerferien mehr Frauen.

Die einen haben Weihnachtsstress, die anderen haben Urlaubsstress.

So ist es vielleicht. Beide Termine bedeuten, dass man mal wieder mehr Zeit für seinen Partner hat. Da gibt es eventuell Situationen, in denen man mal wieder zusammen ist und sich auf den anderen einlassen muss. Ups, da war doch noch was! Gemeinsame Zeit. Das bedeutet für einige Frauen: Mein Mann will immer, ich will nicht. Da ist dann ein Leidensdruck da: Oh, Sommerferien, da kommt ja wieder etwas auf mich zu. Mir geht es in der Praxis dann darum, die Software der Menschen zu ändern. Die Hardware bringen ja alle mit. Es geht darum, eine andere Einstellung zum Sex mit seinem Partner zu kriegen.

Aber woher soll ich die denn kriegen, wenn ich 20 Jahre Ehe, Kinder, Burn-out hinter mir habe? Dann komme ich dreimal bei dir vorbei, und alles ist wieder dufte? Also, ich frage das natürlich für einen Freund.

Das ist zu kurz gesprungen. Aber tatsächlich gibt es Männer, die bei mir mit so einer Erwartungshaltung ankommen. Die werden dann allerdings schnell ruhiger. Erst mal vorweg: Wenn Leute 20, 30 Jahre verheiratet sind, dann ist das irre und bewundernswert – wie lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Wenn sich dann bei mir eine Frau anmeldet und sagt: Wissen Sie was, ich möchte es noch einmal angehen, finde ich das toll. Und dann fragt sie mich, ob sie noch auf der Höhe der Zeit ist, weil sie gern die oder die Art von Sex mag, und ob das überhaupt noch modern ist.

Hajo Schumacher (lacht). Es gibt Moden und Trends?

Ja, auch wenn du lachst. Allein dass man mal wieder über Sexualität spricht, bringt schon viel. Wird mit der Freundin, wird mit dem Freund darüber geredet, über diese Dinge, die sehr intim sind? Doch eher nicht.

Ich kann dir von meinem Freund bestätigen, dass er mit seinen drei, vier besten Kumpels über alles reden kann: Geld, Tod, Sucht. Aber über die Sexualität mit seiner Frau – niemals. Mit welchen Themen kommen die Männer überwiegend zu dir?

Ich habe zunehmend Männer, die unter Lustlosigkeit leiden. Die haben auf Sex einfach keinen Bock mehr. Und ich rede jetzt nicht über Männer, bei denen das Testosteron runtergeht. Das sind oft junge Männer, und das ist neu. Das ist ein großes Thema, genauso wie Erektionsproblematiken. Dann gibt es auch welche mit Liebeskummer, was ich sehr ernst nehme. Und manchmal kommen sie zu mir, weil sie mal ein paar Tipps haben wollen, wie es mit ihrer Frau besser laufen könnte: Wie mache ich das denn am besten, dass die mehr Lust hat?

Gibt es die denn, diese Tipps?

Das sexuelle System ist immer unterschiedlich, jeder hat es anders gelernt, ist anders aufgewachsen. Es ist schon sehr interessant, wie die Leute in Richtung Körperlichkeit und Sexualität zu Hause sozialisiert worden sind. Scham ist bei vielen ein Riesenthema. Ich habe bei mir moderne Frauen sitzen, die Orgasmusprobleme haben, und wenn ich nachfrage, wie die Sexualität gelernt haben, kommen Antworten wie: „Kind, mach die Augen zu, denk an England, es geht vorbei.“ Das ist in den Köpfen drin. Wie können die sich erlauben, eine gute Erotik zu leben? Woher sollen die das haben? Die Kinder lernen heute in der Schule etwas über die hormonelle Situation von Jungs und Mädchen, die lernen etwas über Verhütung. Was die überhaupt nicht hören, ist, wie schön und wie wichtig Sexualität ist, dass Sex Spaß macht, dass es toll ist zu spüren, was Lust bedeutet. Das ist total ausgeblendet.

In der Sexualerziehung wird es schnell technisch, wenn es heißt: Der Penis wird in die Scheide eingeführt.

Das ist genau der Punkt. Das lernen die so in der Schule. Und wenn die dann als ältere Herren bei mir sitzen, und ich frage, was für ein Verhältnis die zu ihrem Penis haben, sind die ganz entsetzt. Wie nennen sie den denn?, frage ich dann. Das ist mein Entladungszapfhahn, was denn sonst, hat einer neulich gesagt. So etwas sagt mir ganz viel. Und bei den Männern ist das Verhältnis zum eigenen Geschlecht noch einfacher als bei den Frauen, weil es draußen ist und sie ständig damit zu tun haben. Geht doch schon mit den Namen los: Für den Penis kriegen wir eine ganze Menge Namen zusammen. Aber für die Vagina? Frauen, die ihr eigenes Geschlecht benennen? Die haben das gar nicht gelernt, ihr Geschlecht richtig wahrzunehmen.

Mit welchen Themen kommen die Frauen?

Lustlosigkeit, Orgasmusprobleme, Schmerzen beim Sex. Manche haben auch eine große Libido, und der Partner zieht nicht mit. Gibt es auch so rum, wobei, damit kommen auch viele Männer.

Nun kommt mein Freund zu dir und sagt: Ich möchte so gern, aber meine Frau nicht. Was sagst du dem dann?

Erst mal höre ich mir die ganzen Umstände an, und frage, wann der Sex zuletzt gut gewesen ist. Und dann erinnern sich selbst Frauen an die erste Verliebtheitsphase, wenn der Mann aus der Dusche kam, und sie gleich übereinander herfielen, gern zwei-, dreimal am Tag. Und ich sehe, wie ihre Augen dabei leuchten. Wenn ich dann frage, wie es heute ist, heißt es: Der Idiot kommt aus der Dusche und lässt das nasse Handtuch liegen.

Der normale Werdegang eines Paares, also der anderen natürlich.

Und den muss man sich bewusst machen. Die lernen sich kennen, da ist Feuerwerk, alles läuft super. Das hält im besten Fall 18 Monate, die allerschönste Phase vielleicht sechs Monate, was übrigens für den Körper sehr anstrengend ist. Man schläft kaum, aber es geht einem trotzdem super. So läuft das halbwegs glatt weiter bis zu dem Punkt, an dem man sich entscheidet, gemeinsam Kinder zu haben. Das erste kommt, alle sind glücklich. Aber die ersten anderthalb Jahre sind so anstrengend, die Nächte, das Geschrei.

Und die Frau fühlt sich nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität.

Das ist eine harte Zeit, und man braucht ein, zwei Jahre, um sich wieder aufzustellen. Und plötzlich ist man nicht mehr nur Frau und Mann, sondern auch Mutter und Vater.

Und die Eifersucht des Mannes auf das Kind würde ich nicht unterschätzen, was ich so von meinem Freund höre.

Gut, dass du das sagst. Das hat dein Freund richtig beobachtet.

Die Mutter kümmert sich halt die ganze Zeit um diesen Wurm. Früher hat sie sich um meinen Kumpel gekümmert.

Genau. Und die Frau ist auch wirklich körperlich fertig. Das ist die Ausgangssituation, die wir alle kennengelernt haben. Und was passiert mit der Partnerschaft? Wir vergessen dann, wie die Situation mit dem Mann ist, dass er sich angenommen fühlen will. Männer sagen bei mir, dass sie einen Samenstau haben, was Unsinn ist. Was sie haben, ist ein Gefühlsstau, sie fühlen sich nicht mehr geliebt und beachtet. Der Mann möchte, dass die Frau auch mal wieder eine Frau für ihn ist. Sex ist eine gute Sache, die möchte man doch haben.

Wenn mein Freund jetzt bei dir in der Praxis sitzt, und so vor sich hin druckst mit seinem, sagen wir mal, Erektionsproblem, dann darfst du nicht grinsen.

Natürlich nicht! Das ist ein ernst zu nehmendes Problem. Denn was ist die Erektion? Sie ist die Identität eines Mannes. Er steht, also bin ich.

Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.

Die große Frage ist, wann das angefangen hat. Wann hat der Mann, wann hat dein Freund das erste Mal mitgekriegt, dass er sich nicht auf seine Erektion verlassen kann?

Verlassen heißt: funktioniert von allein?

Nächtliche Erektion, die Morgenlatte, alles das passiert automatisch. Herrlich, du musst dich um nichts kümmern, es läuft. Wenn man das noch dann und wann hat, ist das ein gutes Zeichen. Die Kernfrage ist, in welcher Situation er ansonsten ein Erektionsproblem hat.

Wenn er mit seiner Partnerin privat wird.

Nenn es ruhig beim Namen: Wenn er mit ihr Sex haben möchte. Und wenn es dann so weit ist, kommt unser größtes Sexualorgan ins Spiel – der Kopf. Und was passiert, wenn Sex für uns auf einmal Stress wird?

Man verkrampft …

Genau, wir verspannen uns, wir atmen ganz kurz, die Durchblutung ist schlecht. Es gibt ein wunderbares Zitat von Napoleon, das wie gemacht für dieses Thema ist: Der Gedanke an die Niederlage ist die Niederlage an sich. Wenn du nur drüber nachdenkst, dass es heute wieder nicht klappt, obwohl sich die Frau vielleicht extra was Schönes angezogen hat, dann klappt es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Dann kommen wir ganz schnell in einen Teufelskreis. Es gibt Männer, die werden dadurch depressiv. Denk nur an das schreckliche Wort Schlappschwanz, das kommt genau daher. Was macht es mit einem Mann, bei dem immer alles funktioniert hat, doch auf einmal ist es nicht mehr stabil?

Was machst du dann?

Ich erkläre ihm, was in seinem Körper und vor allem in seinem Gehirn passiert. Ich erkläre ihm den Teufelskreis und dass er in guter Gesellschaft ist, das hilft schon mal. Und schließlich fange ich mit Körperarbeit an.

Muss sich mein Freund dann ausziehen?

Nein.

Aber Körperarbeit klingt wie eine Drohung.

Es geht darum, dass man die Menschen wieder ins Spüren bekommt. Wenn es immer wieder nicht klappt, sind die so gestresst, das wird immer schlimmer. Ich will die aus dem Kopf wieder in den Körper kriegen. Der Penis wird von Männern oft nicht wie der beste Freund behandelt, sondern wie einer, der sich bitte schön zusammenzureißen hat. So geht das nicht.

Ich habe mal ein Buch über Männer geschrieben, in dem ich genau das thematisiert habe: das Verhältnis der Männer zu ihrem Geschlecht. Der beste Vergleich, der mir so genannt wurde, war der des Akkuschraubers, den man aus der Werkzeugkiste klaubt, und dann läuft er.

Ja, das ist typisch. Und um von dieser Betrachtung wegzukommen, versuche ich, Kopf und Körper in Einklang zu bringen, das ganze System zu sehen. Und frage zum Beispiel: Was machen Sie eigentlich beim Sex?

Mein Freund liegt halt auf dem Rücken …

… und wartet, dass er eine Erektion kriegt, schon klar. Wieso, hat doch immer geklappt? Dein Freund muss lernen, sich zu bewegen, damit er eben nicht so verspannt. Ich mache mit den Männern ganz kleine Übungen, damit sie ihren Körper wieder spüren. Das ist nicht einfach, aber man kann es hinkriegen. Und es geht ja nicht nur darum, eine Erektion hinzukriegen, sondern auch darum, sie zu halten und zu steuern. Das kannst du nur über den Körpereinsatz lernen. Ich frage: Wie machen Sie das immer in der Autoerotik, wie haben sie sich das beigebracht?

… „Auto“ im Sinne von „Selbst“ ...

Genau. Mit welchem Druck fassen Sie sich an, von eins bis zehn? Und wenn die sagen, acht bis neun, dann stellt sich natürlich die Frage: Welche Vagina kann einen Penis derart hart umfassen wie eine kräftige Männerhand? Die haben sich in der Autoerotik etwas beigebracht …

… was es in der Erotik zu zweit nicht gibt.

So ist es. Für den Penis ist gemeinsamer Sex dann eben nicht so interessant als wenn der Mann selbst Hand anlegt. Und wenn er dann noch anspannt, weil er nicht versagen will, verliert er die Erektion schon auf dem Weg zur Frau. Ich gebe den Männern dann als Aufgabe mit nach Hause, den Penis zu resensibilisieren, und sich um ihr Selbstbild zu kümmern.

Wie viele Sitzungen braucht jemand bei dir, um wieder in Schwung zu kommen?

Das kommt darauf an, wie gut der Betreffende seine Hausaufgaben macht. Wer das tut, der hat nach zehn, elf Stunden ein ganz anderes Selbstbewusstsein. Wenn die begreifen, dass sie mit ihrem Körper etwas vollbringen können, dann blühen die im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf.

Tun können heißt für Männer ja häufig, sich zu quälen, einen Marathon zu laufen. Blut, Schweiß, Tränen

Aber bei der Sexualität nutzt es nichts, wenn ich die Zähne zusammenbeiße und noch mal drei Runden mehr mache. Sexualität funktioniert am besten, wenn man keinen Druck hat.