Hamburg. Lars Haider spricht mit der Schriftstellerin und Hamburger Ehrenbürgerin über das Lesen von Büchern als Schlüssel zu fast allem.

Kirsten Boie („Wir Kinder aus dem Möwenweg“, „Der kleine Ritter Trenk“) ist eine der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautorinnen – und Initiatorin der sogenannten Hamburger Erklärung, die fordert, dass „jedes Kind lesen lernen muss“, und inzwischen von rund 117.000 Menschen unterschrieben worden ist. In unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ spricht die Hamburger Ehrenbürgerin mit Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider über die Folgen der Corona-Pandemie für unsere Kinder, das Lesen von Büchern als Schlüssel zu fast allem – und über eine Autorenkollegin, die Wohngeld beantragen muss.

Das sagt Kirsten Boie über…

… Corona und Kinder:

„Wenn wir fragen, wie sich die Corona-Krise auf unsere Kinder auswirkt, stellen wir fest, dass es riesige Unterschiede gibt. Für alle Kinder ist es enorm belastend, zu Hause bleiben zu müssen, nicht in die Schule gehen und sich nicht mit ihren Freunden treffen zu können. Kinder brauchen andere Kinder auch deshalb, um zu lernen, wie Menschen miteinander umgehen. Das fehlt ihnen sehr. Ansonsten ist die Lage für Kinder, deren Familien technisch gut ausgestattet sind und die in Häusern mit Garten leben, natürlich ganz anders als für Kinder, bei denen in der Drei-Zimmer-Wohnung vielleicht gerade mal der Vater ein Handy für vier Familienmitglieder hat. Für diese Kinder ist diese Zeit fatal, und wir werden die Auswirkungen auf ihr Leben erst sehen, wenn sie mit der Schule durch sind.“

… die Schulpolitik in Hamburg während der Pandemie:

„Es war vermutlich richtig, dass Hamburgs Schulsenator Ties Rabe versucht hat, die Schulen so lange wie möglich offenzuhalten – gerade im Hinblick auf die Kinder aus benachteiligten Verhältnissen, und an die hat er ja vor allem gedacht. Was ich falsch fand, war, dass an Grundschulen lange Zeit keine Masken getragen werden mussten. Die Kinder haben damit nämlich kaum Probleme. Ich würde die Grundschulen unbedingt als erstes wieder öffnen, wenn es möglich ist. Die Grundlagen für Lesen und Rechnen können nur im Präsenzunterricht gelernt werden, und wenn das aktuell nicht geschieht, entstehen Lücken, die Kinder in der weiteren Schullaufbahn kaum aufholen können.“

… Kinder, die Texte zwar lesen können, aber nicht verstehen:

„Schon vor Corona konnte ein Fünftel der Zehnjährigen Texte nicht so lesen, dass sie sie auch verstanden haben. Wenn man sie nach der Lektüre gefragt hat, worum es gegangen ist, konnten die ihnen keine Antwort geben. Und das wird leider nicht besser, bis sie die Schule verlassen, das wird eher noch schlechter. Das ist für unsere Gesellschaft hochgefährlich. Einerseits, weil uns diese Schüler am Ende nicht als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, andererseits, weil sie über Jahre Frust und Misserfolge erleben. Woher sollen die ihr Selbstbewusstsein nehmen? Die Kinder, die wir heute verlieren, fehlen uns in einigen Jahren, wenn wir sie in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen. Hamburg hat sich bei diesem Thema übrigens mehr ins Zeug gelegt als andere Bundesländer, bei uns wird so viel wie nirgendwo sonst dafür getan, dass die Kinder richtig lesen lernen. Das geht schon in der Kita los, und es ist frustrierend, dass das alles durch Corona gerade wegbricht.“

… die Frage, ob es ein Problem ist, wenn führende Politiker keine Kinder haben:

„Ich glaube, wir haben zunächst immer alle nur das im Blick, was unser eigenes Leben so hergibt, privat und beruflich. Wenn ein führender Politiker nie mit Kindern zu tun hatte, dann müssen wir dafür sorgen, gern auch penetrant, dass er sich damit beschäftigt. Und wir müssen auch aufpassen, dass wir selbst nicht nur Kinder wahrnehmen, die so ähnlich leben wie unsere Kinder. Wir müssen auch auf die Situation der Kinder aufmerksam machen, deren Eltern das aus welchen Gründen auch immer nicht tun können.“

… das Lesen:

„Wir machen uns manchmal gar nicht klar, wie viel das Lesen von Büchern Kindern bringt. Immer, wenn wir lesen, ist unser Gehirn wahnsinnig aktiv, es werden neue Synapsen geknüpft. Soll heißen: Jedes Buch, das ein Kind liest, macht es schlauer. Und nicht nur das. Lesen steigert auch die Empathie. Sie lernen durch das Lesen, anders als durch Filme, sich in andere Menschen zu versetzen, zu verstehen, wie es ihnen geht, wie sie fühlen, weil das da erzählt wird. Normalerweise wissen wir nie, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht, das können wir nur erahnen. Aber in einem Buch erfahre ich ständig, was die Protagonisten denken, warum sie dies machen und das nicht. Und natürlich hilft mir das, wenn ich im echten Leben verstehen will, wie andere Menschen ticken.“

… gute Kinderbücher:

„Der wichtigste Entscheider, ob ein Buch gut oder schlecht ist, ist immer das Kind. Wenn ihrem Kind ein Buch Spaß macht, dass Sie trivial finden und kaum ertragen können, dann soll Ihr Kind das bitte trotzdem lesen. Nur wenn es Freude hat, wird es lesen, lesen, lesen und irgendwann wie von selbst zu den Büchern kommen, die wir Erwachsene empfehlen würden. In der Vorlesephase sollten beide Spaß haben, weil das Kind natürlich merkt, wenn Vater oder Mutter beim Vorlesen genervt sind. Übrigens hilft es natürlich auch sehr, wenn die Kinder sehen, dass ihre Eltern auch selbst lesen. Leider lesen Väter immer noch viel weniger als Mütter, aber wenigstens beim Vorlesen haben sie nach meiner Erfahrung fast aufgeholt.“

… das Schreiben:

„Wenn Kinder mich fragen, wie das mit dem Schreiben ist, dann sage ich immer: Es ist bei mir so, als würde ich die Geschichte in meinem eigenen Kopf lesen. Ich setzte mich an meinen Laptop, und dann diktiert mir mein eigenes Unterbewusstsein, was ich tippen muss. Das Schreiben ist in so einer Phase für mich wie Lesen. Ich mache mir vor einem Buch natürlich einen groben Plan. Aber die Figuren lerne ich erst während des Schreibens genauer kennen, und dann ändert sich die Handlung automatisch.“

… Kinderbuchautoren in der Pandemie:

„Von Kinderbüchern kann man nur ganz schwer leben, weil sie immer deutlich weniger kosten als Bücher für Erwachsene. Dann sind die meisten Bücher auch noch illustriert, das bedeutet, der Autor muss die Einnahmen teilen. Kinderbuchautoren müssen deshalb einen großen Teil ihrer Einkünfte durch Lesungen erzielen, in Schulen, Buchhandlungen und Büchereien. Und all das hat es 2020 nicht gegeben, bei mir sind zum Beispiel etwa 40 Termine ausgefallen. Ich muss nicht davon leben, aber wenn ich davon leben müsste, wie so viele Kolleginnen und Kollegen, hätte ich inzwischen ein großes Problem. Ich habe grade von einer Kollegin gehört, die jetzt Wohngeld beantragt hat.“

… das Image von Kinderbuchautoren:

„Alles, wo Kinder- in der Vorsilbe steht, wird in Teilen unser Gesellschaft nicht richtig ernst genommen. Das betrifft nicht nur Kinderbuchautoren. Denken Sie etwa daran, welches Image ein Kinderarzt im Vergleich zu einem Kardiologen oder Chirurgen hat. Kinderliteratur wird ja nach wie vor nicht bei der Literatur eingeordnet, sondern bei Playmobil oder Duplo. Ich erlebe da durchaus lustige Geschichten. Ich erinnere mich an eine Buchmesse in Schweden, bei der es einen Empfang gab und ein Herr mit einem Sektglas auf mich zukam, und ganz reizend ein Gespräch begann. Er fragte mich, was ich denn schreibe, und ich sagte: „Ich schreibe für Kinder.“ Da drehte er sich um und ging, um sich den nächsten Gesprächspartner zu suchen.“

… die Ernennung zur Hamburger Ehrenbürgerin:

„Die hat mich unglaublich überrascht, ich habe eine Woche gebraucht, um diese Ehrung überhaupt anzunehmen. Ich habe mich aber sehr darüber gefreut, auch, weil ich erst die sechste Frau als Ehrenbürgerin in der Geschichte Hamburgs bin. Und weil diese Auszeichnung das Signal sendet, dass der Stadt Kinder wichtig sind.“