Hamburg. Michael Schulte-Markwort, Chef der Kinder und Jugendpsychiatrie am UKE, lobt Helikoptereltern und hält Entschleunigung für unmöglich.

Er arbeitet an der Digitalisierung der Psychotherapie, nennt Pippi Langstrumpf ein verwahrlostes Mädchen und lobt diejenigen, die andere verächtlich als Helikoptereltern bezeichnen: Michael Schulte-Markwort ist Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf, aber auch Buchautor („Burnout-Kids“, „Superkids“) und Unternehmer. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht in unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ mit ihm über das falsche Bild, das viele Eltern von Erziehung haben, über geklaute Sandkastenschaufeln – und insgesamt über die „Jugend von heute“.

Das sagt Michael Schulte-Markwort über…

…Psychotherapie per App:

„Wir arbeiten gerade an der Digitalisierung der Psychotherapie: Die App, die bei Depressionen zum Einsatz kommen soll, wird MySoul heißen. Ich glaube, dass sie nach analoger Diagnostik und Kontaktaufnahme genauso gut sein kann wie ein Mensch. Mein Anliegen ist aber erstmal, Kinder mit psychiatrischer Hilfe zu versorgen. Es gibt viel zu viele in Deutschland, die dringend eine Therapie brauchen, aber keinen Kinderpsychiater finden oder lange auf einen Termin warten müssen. MySoul kann etwa drei Monate Therapie abdecken, damit kann man die Wartezeiten gut überbrücken. Ein Vorteil der App ist auch, dass sie sich jeden Tag bei den Kindern meldet, etwas, was ein normaler Psychotherapeut überhaupt nicht leisten kann.“

...sein enormes Arbeitspensum:

„Ich werde oft gefragt, wie ich das alles schaffe, aber soll ich Ihnen was sagen: Ich mache es einfach. Ich arbeite sehr verdichtet und hochkonzentriert. Und ich wirke vielleicht von außen ruhiger und entspannter, als ich es von innen bin. Außerdem strengen mich die Begegnungen mit Kindern überhaupt nicht an, im Gegenteil. Die Gespräche tragen und erden mich. Ich bin jedes Mal berührt, wie sehr sich Kinder mir anvertrauen. Das ist ein großes Glück, dadurch habe ich immer eine Idee, wie Leben funktioniert. Ich bin nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen, weil ich weiß, wie fast alles gut wird.“

…seine ersten Fragen im ersten Gespräch mit seinen jungen Patienten:

„Die erste Frage ist immer: Bist du freiwillig hier? Die zweite lautet: Weißt du, was ich für ein Arzt ich bin? Und danach frage ich erst, ob das Kind glaubt, richtig bei mir zu sein. Dadurch entstehen sehr, sehr spannende Dialoge, bei denen die Eltern daneben sitzen und nur zuhören. Sie frage ich erst nach etwa 20 Minuten, ob sie etwas zu dem, was ihre Tochter oder ihr Sohn gesagt hat, ergänzen möchten. Wichtig ist, dass ich eine respektvolle Beziehung auf Augenhöhe zu dem Kind aufbaue.“

…seine Kernbotschaft:

„Unsere Kinder sind wunderbar, super, traut und vertraut ihnen mehr und folgt ihnen. Darum geht es in meinem zweiten Buch, das „Superkids“ heißt, und sich von allen meinen Büchern am schlechtesten verkauft hat. Mir war diese Botschaft aber ein Anliegen.“

…die falsche Vorstellung von Erziehung:

„Wir haben als Eltern immer das Gefühl, dass wir aus wenig viel formen müssen. Das stimmt aber nicht. Wir müssen unsere Kinder nicht erziehen, wir müssen sie begleiten, uns beziehen. Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht, im Zweifel rupft man es heraus. So ähnlich ist das mit Kindern. Man muss zu ihnen eine Beziehung aufbauen, wie zu einem wachsenden Partner. Und in einer solchen Beziehung haben Strafen oder Sanktionen nichts zu suchen.“

…Helikoptereltern:

„Der Begriff ist schrecklich und falsch. Ich freue mich darüber, dass Eltern sich heute mehr Sorgen um ihre Kinder machen als früher, dass sie auch rechtzeitig zu uns in die Klinik kommen. Mit den Eltern, die sich übermäßig sorgen, habe ich natürlich auch zu tun, die sind aber nach meiner Einschätzung in der Minderheit.“

…geklaute Sandkastenschaufeln:

„Wir verniedlichen es als Erwachsene oft, wenn ein Kind bitterlich weint, weil ihm ein anderes die Schaufel im Sandkasten weggenommen hat. Für das Kind kann das in diesem Moment existenziell sein, das muss man ernst nehmen.“

…Pippi Langstrumpf:

„Pippi Langstrumpf ist ein komplett verwahrlostes Mädchen und es ist mir ein Rätsel, warum die so gefeiert wird. So ein Kind müsste man zu mir bringen. Die ist vereinsamt, wächst ohne Eltern auf und macht aus ihrer Not so geht es geht eine Tugend. Sie hat keine Schulbildung, sie hat kaum Freunde außer Tommy und Anika. Ich habe sehr viel Mitgefühl mit solchen Kindern. Pippi berührt mich durch ihr verzweifeltes Ankämpfen gegen ihre Verwaisung.“

…Kinder, die keine Tyrannen sind:

„Tyrannei unterstellt ja, dass jemand eine bewusste Strategie hat, jemanden anders zu unterdrücken. Kinder wollen geliebt werden, Kinder wollen nicht verstoßen werden, Kinder wollen es uns eigentlich immer recht machen.“

…das komplett andere Zeitgefühl von Kindern:

„Wenn ein 14-Jähriger am Tag vor der Zeugnisvergabe vor mir sitzt, und erzählt, dass er drei Fünfen hat, das aber noch drehen wird, dann glaubt er das wirklich. Und wenn ein Kind sagt, dass es gleich den Mülleimer rausbringt, dann kann das auch in fünf Stunden sein. Das muss man als Eltern nur wissen.“

…Mediennutzung von Kindern:

„Durch die Nutzung von Medien werden Kinder nicht dümmer, sondern reflexiver. Wir müssen ihnen zutrauen, mit diesen Medien gut umzugehen. Ich frage Eltern immer, wie lange ihre Bildschirmzeit pro Tag ist. Und wenn sie dann nachgucken, sind alle erstaunt. Die modernen Technologien sind für Kinder gar nicht so schlimm, wie immer alle sagen.“

…die Jugend von heute:

„Jede Generation traut der nachfolgenden weniger zu, das ist seit 2000 Jahren so. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Oberstufe auf die Fünftklässler geguckt und gedacht habe: So schlimm war ich nie. Das war natürlich Quatsch. Ich glaube, es hat etwas mit Neid zu tun, weil die Jugend noch alle Möglichkeiten hat. Ich glaube sowieso, dass wir uns zu wenig trauen, zu unserem Neid auf Kinder und Jugendliche zu stehen, denen alles offen steht.“

…das richtige Alter für die Kita:

„Ich bin sehr dafür, dass wir unsere ganz kleinen Kinder nicht zu früh in die Kitas geben. Ich würde mich wohler damit fühlen, wenn Kinder drei Jahre Zeit haben, mit ihrer Mutter und/oder ihrem Vater zusammen zu bleiben. Ich würde mir wünschen, dass Eltern mehr Interesse daran hätten, länger mit ihrem Kind zusammenbleiben. Es mit einem Jahr in die Kita zu stecken, empfinde ich als Zumutung. Die Sehnsucht nach den Eltern ist groß, und sie wird auch mit den Jahren nicht kleiner.“

…Entschleunigung, die unmöglich ist:

„Man muss schon schauen, dass man mit dem Tempo, das unsere Gesellschaft vorgibt, mitgeht. Wer aussteigt, fliegt raus, das ist nun mal so. Ich halte Entschleunigung für eine romantische Idee. Die meisten Menschen und vor allem Kinder freuen sich, wenn sie etwas zu tun haben. Wer sagt, dass Kinder Langeweile aushalten müssen, sollte sich selbst mal beobachten, was geschieht, wenn er nichts zu tun hat.“