Hamburg. Im Abendblatt-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ geht es um ein noch immer ungesühntes Gewaltverbrechen.

Es ist einer dieser windigen, trüben Februartage. Kein Wetter, bei dem es die Menschen dringend vor die Tür lockt. Doch Dirk K. geht liebend gern ins Freie. Er sieht Bäume, Gärten und Wolken — alles unverstellt, ohne dass Gitterstäbe im Weg wären oder eine hohe Mauer. Es ist sein erster Tag draußen, seit sehr langer Zeit. Fast 31 Jahre lang hatte der 52-Jährige dies so nicht mehr erleben dürfen, weil er bis Anfang 2016 weggeschlossen war — für einen Mord an einem sieben Jahre alten Jungen, für den er wohl nicht hätte verurteilt werden dürfen.

„Rund 11.000 Tage unschuldig hinter Gittern, das ist wohl einsamer Rekord in Deutschland“, erzählt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher.

Es geht bei dem Fall, den die Autoren auch in ihrem Buch „Der Tod gibt keine Ruhe“ schildern, um den Tod des kleinen Michael. Am 22. April 1985 ist der Siebenjährige abends nicht vom Spielen nach Hause gekommen, die ganze Nacht wird nach ihm gesucht. Am nächsten Tag wird für die Eltern ein Alptraum Gewissheit: Der Junge ist tot. Seine Leiche wird in einem Gebüsch gefunden. Der Körper des Siebenjährigen ist teilweise entkleidet.

Polizei nimmt Aushilfsgärtner fest

„Die Polizei vermutet deshalb ein Sexualdelikt“, erinnert Püschel. „Es kommen mehr als hundert Hinweise. Eine Spur führt zu Dirk K. Der damals 21-Jährige, der in der Nachbarschaft lebt, gerät auch deshalb in Verdacht, weil er schon früher sexuelle Kontakte zu Jungen gesucht haben soll. Es hat aber nie ein Anzeige gegeben.“

Eine Woche nach dem Gewaltverbrechen nimmt die Polizei den Aushilfsgärtner fest. Der junge Mann gilt wegen eines IQ von 74 als „geistig behindert“. Später heißt es, er habe die Tat gestanden. Demnach verlief das Verbrechen so: Er habe den Jungen an einem Spielplatz angesprochen. Der Siebenjährige bekommt Angst und läuft weg. Dirk K. will ihn eingeholt haben. Weil das Kind nicht aufgehört habe zu schreien, habe er ihn erwürgt.

Später aber widerruft der Angeklagte sein Geständnis. Gleichwohl reicht einem Gericht im Prozess die Beweislage aus, um von seiner Täterschaft überzeugt zu sein. Wegen seines „mittelgradigen Schwachsinns“, so heißt es wörtlich, gilt Dirk K. als schuldunfähig. Er kommt nicht ins Gefängnis, sondern wird in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Weil er stets seine Unschuld beteuert, wird er durch Psychiater als uneinsichtig sowie nicht therapierbar eingestuft und bleibt hinter Gittern, 31 Jahre lang.

Neuerliche Prüfung des Falles

Dabei gibt es spätestens seit 1997 einen neuen Verdächtigen. Ein Anwalt meldet sich bei den Ermittlern und erzählt, einer seiner Mandanten habe sich zu dem Mord an dem Siebenjährigen bekannt. Es ist ein junger Mann, der ebenfalls in der Nachbarschaft des Opfers wohnte. Die Staatsanwaltschaft prüft das Geständnis — und stuft es als bedeutungslos ein.

„Im Urteil heißt es, dass das Kind erwürgt worden sei. Der junge Mann, der jetzt als zweiter die Tat eingeräumt hat, spricht aber auch von Messerstichen in den Hals“, erklärt Püschel. „Das passt angeblich nicht zusammen. Zumindest auf den ersten Blick nicht. Wenn man dagegen bei der Obduktion und beim Urteil genauer hingeschaut hätte…“ Erst als sich im Jahr 2015 ein neuer Anwalt mit dem Fall Dirk K. befasst und weitere Widersprüche aufdeckt, kommt es zu einem Wiederaufnahmeverfahren. Und Dirk K. kommt frei, endlich. Am 2. Februar 2016 wird er aus dem Maßregelvollzug entlassen.

Bei der neuerlichen Prüfung des Falles wird besonderes Augenmerk auf das damalige Sektionsprotokoll gelegt. Im Prozess von 1986 hatte der frühere Obduzent erklärt, dass es sich bei Verletzungen am Hals des Opfers um postmortale Tierverletzungen handelte, also beispielsweise durch die Krallen ein streuenden Hundes. Die Beschreibungen der Wunden im damaligen Sektionsbericht ließen aber eher andere Schlüsse zu. „Tatsächlich passen sie nach meiner Überzeugung sehr genau zu einer Einwirkung mit einem Messer“, erläutert Püschel. „Die Wundränder werden zum Beispiel als ,glattrandige Verletzung’ beschrieben, es finden sich auch Formulierungen wie ,stichartig’. Keine Kralle und kein Zahn heimischer Tiere ist so lang und spitz, dass dadurch eine derartige Verletzung hervorgerufen werden könnte.“

„Auch Richter machen Fehler“

Also passen die Verletzungen nicht zu dem, was Dirk K. Jahrzehnte vorher gesagt hatte. Von einem Messer war in seinem ersten und einzigen Geständnis nie die Rede. „Für mich war offensichtlich, dass dagegen das spätere Geständnis des zweiten jungen Mannes eindeutig Täterwissen repräsentierte.“

Im neuen Prozess, der 32 Jahre nach dem Mord an dem kleinen Michael beginnt, steht alles auf Anfang. Es gilt die Unschuldsvermutung. Vor allem anhand der Zeugenaussagen kann der Sachverhalt nicht aufgeklärt werden. Und schließlich, nach sieben Monaten Dauer, endet der neue Prozess mit einem Freispruch für Dirk K. Zudem wird dem Mann eine hohe Entschädigungssumme für die erlittene Zeit hinter Gittern zugesprochen. Die Rede ist von mehreren hunderttausend Euro.

Gleichwohl will der Schwurgerichtsvorsitzende von einem Justizskandal nicht sprechen. Das Urteil aus dem Jahr 1986, mit dem Dirk K. wegen Mordes in die Psychiatrie eingewiesen wurde, sei zwar aus heutiger Sicht falsch. Aber, sagt der Richter: „Juristen bewerten Beweismittel unterschiedlich, auch Richter machen Fehler – all das ist kein Skandal.“ Auch Dirk K. will nicht von einem Skandal sprechen. Aber seine letzten Worte sind eindringlich: „Der Mörder läuft noch frei herum.“