Hamburg. In dieser Folge geht es um Beziehungen, ohne die niemand leben kann, die durch Schul- und Ausbildungssystem aber erschwert werden.

Erwachsene haben im Schnitt sechs Freunde, je älter man wird, desto weniger werden es. Prof. Dr. Jenny Wagner und Prof. Dr. Kay Peters von der Universität Hamburg erklären, wieso über Facebook keine echten Freundschaften entstehen, Kinder in Städten anders Bekanntschaften schließen als auf dem Land, und warum Freunde mit unterschiedlichem Einkommen auf Dauer Probleme bekommen.

Wir drei kennen uns nicht. Welche Faktoren müssten zusammen kommen, damit wir Freunde werden?

Prof. Dr. Wagner: Erst mal ist es gut, dass wir hier sind. Zusammensein und gemeinsam Dinge zu erleben, die vielleicht sogar etwas ungewöhnlich sind, das führt zu einer Attraktion der anderen Person. Und dann braucht man Zeit, um sich gegenseitig auszutauschen. Eine Studie besagt, wenn man 50 Stunden miteinander verbracht hat, dann kann ein Bekannter zum Freund werden.

Ist die Basis von Freundschaft eine Ähnlichkeit in den Ansichten? Der Soziologe Ferdinand Tönnies spricht von einer „Gemeinschaft des Geistes“.

Wagner: Ja. Wenn andere Leute uns als ähnlich wahrnehmen oder wir das Gefühl haben, uns ähnlich zu sein, hilft das. Man kann sich etwa ähnlich sein in Bezug auf das Alter, im Status oder in Bezug auf Ressourcen. Ein starkes Gefälle im Einkommen etwa funktioniert schlecht, weil man unterschiedliche Freizeitaktivitäten machen könnte und möchte. In der Psychologie sieht man, dass eine Ähnlichkeit bei den Komponenten Extraversion und Verträglichkeit, also wie sozial bin ich, wichtig ist. Außerdem muss es Gemeinsamkeiten bei den Fragen geben, wie kooperativ und empathisch jemand ist.

Prof. Dr. Kay Peters: Freunde definieren wir aus dem jeweiligen Zeitpunkt heraus. Wenn ich zurückgehe in meine Schulzeit oder Studienzeit, gibt es einen Kern von Freunden, den man behält und andere, die man verliert. Weil sich Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten auseinanderentwickeln können. Man arbeitet sich in Freundschaften rein und wieder heraus, das sind dynamische Prozesse.

Wie viele Freunde hat ein Mensch im Durchschnitt?

Wagner: Im mittleren Erwachsenenalter benennen Menschen im Schnitt sechs Freunde. Ältere Personen haben hingegen eher weniger Freunde. Dabei war lange offen, ob das etwas mit der Definition oder Wertigkeit von Freunden für junge und ältere Personen zu tun hat. Heute wissen wir: Das Netzwerk nimmt über die Lebensspanne ab, wir gehen davon aus, dass diese Veränderung etwas mit der Grundmotivation zu tun hat. Wofür habe ich Freunde? In jungen Jahren ist die Motivation eher instrumentell, ich vergrößere damit meine Chancen und Möglichkeiten. Mehr Kontakte sind dann generell gut. Je älter wir werden, desto besser erkennen wir, wer wirklich wichtig ist. Ich behalte nur die Freunde, die emotional bedeutsam sind.

Peters: Es geht alles darauf zurück, wie unser Gehirn in der Steinzeit kalibriert wurde. Wir verhalten uns oft so, als lebten wir noch im Steinzeitdorf. Da waren Freundschaften mit anderen Familien Rückversicherungen, man tauschte sich aus. So kommen altruistische Verhaltensweisen zustande: Ich teile, obwohl ich es nicht muss, in der Erwartung, etwas zurückzubekommen, wenn ich etwas brauche. Eine Versicherung heute ist nichts anderes als das gemeinsame Getreide- und Obstteilen früher.

Ist Freundschaft ein graduelles Phänomen?

Peters: Es ist ein Kontinuum der Beziehungsstärke, der Intensität. Viele Menschen vereinsamen auch deshalb, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, Dinge gemeinsam zu tun. Dann werden richtige Freundschaften zwangsläufig seltener. Das sage ich auch immer meinen Kindern. Dieser Kollateralschaden wurde bei G 8 gar nicht bedacht. Wenn ich den jungen Leuten die Zeit nehme, im Verein oder anderswo mit anderen Beziehungen einzugehen und stecke sie danach in ein „durchgetaktetes“ Bachelor-Studium, wann und wo sollen sie Freundschaften lernen und bilden?

Wagner: Dabei brauchen wir Freunde so sehr! Wir können gar nicht überleben ohne Freundschaften. Wir sind soziale Wesen, haben alle ein Need-to-belong, ein Zugehörigkeitsbedürfnis. Dieses ist allerdings unter Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Manchen kann ein einziger Freund ausreichen, andere benötigen einen großen Freundeskreis. Wenn Jugendliche etwa eine reziproke Freundschaft benennen können, also beide sagen übereinander, miteinander befreundet zu sein, das geht das einher mit mehr Wohlbefinden und höherem Selbstwert.

Peters: Ergänzend dazu gibt es Menschen, die scheinbar niemanden brauchen. Die sind für mich entweder auf dem Yoga-Level, sie müssen niemandem zeigen, wer sie sind und kümmern sich um sich selbst. Oder wir kennen alle aus der Schulzeit vielleicht Psychopaten, die kein Bedürfnis haben, zu irgendjemandem nett zu sein, sie haben dieses Need-to-belong kaum ausgeprägt. Diese Heterogenität ist von der Natur anscheinend gewollt. Man sieht sie in der Gesellschaft jeden Tag, zum Beispiel in der Flüchtlingsdebatte: Es gibt Menschen, die sich für andere, sogar Unbekannte engagieren, und andere, denen es anscheinend egal ist, was mit anderen Menschen passiert. Es kommt letztendlich wohl darauf an, eine gesunde Mischung dieser Charaktere in der Gesellschaft zu haben. Wenn es immer nur einen Typ gäbe, wäre unsere Gesellschaft vielleicht nicht überlebensfähig. Pointiert auf Unternehmen übertragen bedeutet das: Ein Vorstand kann nicht immer ein netter Freund sein.

Nein?

Peters: Nein. Weil sie manchmal harte Entscheidungen treffen müssen, bei denen sie auf individuelle Freundschaften im Sinne der Gemeinschaft keine Rücksicht nehmen können. Deshalb funktioniert Geschäft und Freundschaft in der Regel nicht gut. Weil man dann eventuell rechtzeitige Entscheidungen meidet, die einer individuellen Freundschaft wehtun, die für die Zukunft der Firma und Belegschaft aber wichtig gewesen wären. Eine einzelne Freundschaft existiert ja nicht im Vakuum, sondern ist Zielkonflikten im Kontext des Lebens der beteiligten Personen ausgesetzt. Jede Freundschaft ist durchgehend Entscheidungen von beiden Seiten ausgesetzt – ist Ziel A wichtiger oder diese Beziehung?

Wagner: Die Erwartungshaltungen von Freundschaften können ganz unterschiedlich sein. Der eine Freund ist beleidigt, wenn man nicht jeden Dienstag das Tennis-Date einhält. Der andere freut sich, wenn man alle zwei Monate mal anruft und sich austauscht. Hier können auch Geschlechtsunterschiede zum Tragen kommen. Frauen haben ein größeres Bedürfnis zu reden, bei Männern steht häufig eine Aktivität oder ein Nutzen im Mittelpunkt.

Peters: Diese Stereotypen lösen sich in den Metropolen, wo viele Leute aus verschiedenen Kontinenten zusammenkommen, allerdings zunehmend auf. Junge Leute bilden Freundschaften in Städten anders als in ländlichen Gebieten. Dies wird durch die sozialen Medien verstärkt. So kommt eine weitere Ebene der Teilzeit-Freundschaften hinzu, die themen- oder aktivitätsbezogenen Freundschaften. Auf dem Land sind es nicht so viele Menschen, und man ist aufeinander angewiesen. In den Städten habe ich zunehmend mehr Möglichkeiten.

Welchen Einfluss haben technologische Netzwerke wie Facebook auf unsere Freundschaften?

Wagner: Bei Facebook hat man häufig Hunderte Freunde. Aber der Mensch ist nicht dafür gemacht, so viele Freunde zu haben. Eine wissenschaftliche These besagt, dass wir in der Lage sind, zu 150 Personen sozialen Kontakt aufrechtzuerhalten. Facebook ist also gleichzeitig Problem und Chance. Die Limitationen, die man durch Zeit und Örtlichkeiten hat, dachten wir ausblenden zu können, in dem wir mit einem Post plötzlich 500 Menschen erreichen. Niemand von uns hat ja die Zeit, 500 Personen anzurufen. Wir sehen in der Forschung aber auch, dass solche Posts eben nur ausreichen, um Kontakt zu halten, jedoch nicht für die Pflege einer Freundschaft. Da gehört ein reziproker Austausch und eine gewisse Beziehungsintensität dazu, eine 1:1-Interaktion, eine Intimität und Nähe.

Peters: Wenn ich einen Post an 500 Leute schicke, dann wird er auch als solcher wahrgenommen. Wenn ich mich nicht persönlich mit meinem Gegenüber engagiere, wird ein Abreißen der Freundschaft durch Posts oder kurze Whats­Apps gestreckt, aber das Endergebnis wird das gleiche sein. Selbst Facetime oder Skype reichen auf Dauer nicht aus, weil es auf die ganze Körpersprache eines Menschen ankommt. Wir haben viele nonverbale Kommunikationskanäle, die wir durch die Technik immer beschneiden. Wenn meine beste Freundin nach Kalifornien zieht, ich da aber nicht alle paar Jahre mal hinfahre, ist die Konsequenz absehbar. Ich frage mich, wie die heutige Jugend, die mit sozialen Medien – oft anstatt persönlicher Interaktion – aufwächst, in der Zukunft ihre Beziehungen definieren möchte. Wie belastbar werden deren Beziehungen sein? Darüber sollte man in der Schule diskutieren.

Wagner: Ungeachtet aller sozialen Netzwerke haben wir ja auch ein Leben. Und im realen Leben muss auch mal ein Schrank getragen werden.

Frau Wagner, Sie sagen, Freundschaften funktionieren besser bei ähnlichem Einkommen, woran liegt das?

Wagner: Das hat etwas mit Status und Ressourcen zu tun. Man möchte beispielsweise ein Wochenende gemeinsam in Rom verbringen, aber der eine will zelten, der andere ins Grandhotel, das wird problematisch. Solche Unterschiede kann man zeitweise ausgleichen, indem der eine mehr zahlt als der andere, aber das funktioniert nicht auf längere Sicht. Wenn ein Freund etwa arbeitslos wird – dann kann man ihm unter die Arme greifen, aber das wird nicht ewig funktionieren.

Was sind ungesunde Freundschaften? Aristoteles hat kategorisiert in die „Freundschaft unter Gleichen“ und die „Freundschaft unter Ungleichen“.

Wagner: Mit einem Narzissten kann man meist nicht gut befreundet sein. Narzissten wollen immer von anderen bewundert werden. Am Anfang sind diese Menschen sehr eloquent und einnehmend, aber mit der Zeit kippt das Zusammensein. Wenn Narzissten die Bewunderung von anderen Personen nicht mehr spüren, weil diese gemerkt haben: So toll ist der gar nicht, der ist nur auf seine eigenen Vorteile bedacht, dann ist die Beziehung schnell vorbei.

Am schlimmsten ist es, jemanden zu beerdigen, der noch gar nicht gestorben ist. Was passiert in uns, wenn wir feststellen: Jemand ist nicht mehr mein Freund?

Peters: Schwierig, denn explizite Aufkündigungen der Beziehung gibt es fast nur in Partnerschaften.

Wagner: Weil Freundschaften dynamische Prozesse sind, braucht es aber manchmal gar keine Aktion, um das Ende zu besiegeln. Wenn ich mich nicht mehr kümmere, dann beendet sich die Freundschaft teilweise auch von selbst. Warum soll ich einen Konflikt suchen, der nur unschön wird? Daher könnte auch die schöne Formulierung kommen: Sich aus den Augen zu verlieren. Beziehung bedeutet immer auch Arbeit, sie funktioniert eher nicht von alleine. Es kann hitzige Phasen geben, in denen man sich ständig sieht und WhatsApp schreibt, und dann solche, in denen man überlegt, ob man noch mal investieren soll, oder ob ich es auslaufen lasse. Wer nie investiert, der wird keine funktionierenden Beziehungen haben. Kinder lernen schon sehr früh, dass es dazugehört, zu interagieren, sich zu melden und sich gegenseitig abzuholen!

Peters: Deshalb finde ich es so wichtig, dass Kinder ganz viel Zeit miteinander verbringen, Freundschaften entwickeln sich durch viel Miteinander. Ganztagskonzepte in Schulen sind vor diesem Hintergrund meines Erachtens super. Am besten wäre für uns alle das französische Konzept, wo die Kinder schon mit sechs Monaten in die Betreuung können, wie früher im Dorf in der Steinzeit. Da haben die Omas und Opas und alle, die nicht mehr jagen oder sammeln konnten, auf Kinder aller Altersstufen aufgepasst. Wer sagt, das Kind solle alleine bei Mama oder Papa zu Hause bleiben, der verkennt, dass das von der Natur wahrscheinlich nie so vorgesehen war. Es handelt sich um eine Sache, die wir uns heute leisten können oder wollen, aber es mag nicht die sonnvollste Weise sein, um eine Gesellschaft zu bauen, in der Menschen früh Empathie lernen und das Reziproke des Verhaltens verstehen.