Hamburg. Jeden Sonnabend im Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es darum, Regeln zu brechen.

Früher redete man nicht über sie, heute sind Tabus in aller Munde. Wofür wir sie brauchen – und was derzeit die schlimmsten Tabubrüche sind, erklären Prof. Ortrud Gutjahr und Prof. Frank Adloff von der Universität Hamburg.

Frau Gutjahr, erzählen Sie uns doch bitte einmal, was James Cook damit zu tun hat, dass wir heute das Wort Tabu kennen.

Prof. Dr. Ortrud Gutjahr: Cook hat das Wort quasi importiert. Der Kapitän hatte auf den polynesischen Inseln ein ihm unerklärliches Verhalten beobachtet. Bestimmte Dinge waren strikt untersagt: Als er etwa einen Häuptling auf sein Schiff einlud, nahm dieser bestimmte Speisen nicht an. Oder eine Frau durfte nicht berührt werden, nachdem sie einen toten König gewaschen hatte. Die Einheimischen benutzten für das, was unbedingt zu unterlassen ist, das Wort Tabu. Cook wurde dann selbst ein Opfer des Tabubruchs. Bei seiner Landung auf Hawaii verehrten ihn die Einheimischen zunächst wie einen Gott. Als er allerdings von der Insel wegsegelte, ging sein Schiff kaputt. Cook war gezwungen zurückzukehren. Aber kann so jemand ein Gott sein? Die Einheimischen gerieten außer sich. Der großartige Weltumsegler wurde am Strand von Hawaii ermordet, geradezu niedergemetzelt.

Mannomann. Mit einem Mord beginnen wir unser Gespräch. Herr Adloff, wie würden Sie ein Tabu definieren?

Prof. Dr. Frank Adloff: Ein Tabu hat immer etwas mit Verboten zu tun, aber nicht jedes Verbot ist ein Tabu. Tabus berühren Dinge, die uns auch heute noch heilig erscheinen. Von Émile Durkheim stammt die These, dass es keine Gesellschaft ohne Religion gibt. Selbst in Gesellschaften, in denen die Menschen gar nicht mehr zur Kirche gehen. Religion hat immer etwas mit dem Heiligen zu tun, und Heiliges gibt es in jeder Gesellschaft, das die Menschen durch Tabus schützen wollen.

Wodurch genau unterscheidet sich ein Tabu von einem Verbot?

Adloff: Wir unterscheiden ja beispielsweise zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Tatbeständen. Wenn ich meine Rechnung nicht bezahle, dann bekomme ich Mahnungen, werde aber nicht aus der Gesellschaft ausgestoßen oder mit einer moralischen Empörung belegt. Wenn ich aber jemanden umbringe, dann verstoße ich gegen ein Heiligtum, in diesem Fall die Menschenwürde, dieses Tabu ist mit wesentlich härteren Sanktionen verbunden.

Brauchen wir alle diese Spannung zwischen Begrenzung und Grenzüberschreitung?

Gutjahr: Sie kennzeichnet jedenfalls unsere ambivalente Einstellung gegenüber Tabus. Heutzutage werden Tabus als Meidungsgebote verstanden. Warum etwas Bestimmtes zu meiden ist, bleibt manchmal unklar. Denn Meidungsgebote sind von klein an einsozialisiert. So werden sie Teil unserer Alltagsroutinen. Gerade durch ihre gewachsene Selbstverständlichkeit sind sie für Außenstehende schwer nachvollziehbar.

Welche Funktionen haben Tabus für das gesellschaftliche Miteinander?

Adloff: Wir brauchen etwas, das unsere Handlungen miteinander koordiniert. Wir sind freie Menschen, sind nicht in­stinktgesteuert wie die Tiere, und da braucht es eben Regeln. Ohne Regeln kein Zusammenleben.

Aber wir haben doch Gesetze, reicht das nicht für eine funktionierende Gesellschaft?

Adloff: Tabus wirken aber auf einer noch tieferen Ebene, in der Psyche des Einzelnen. Uns ist klar: Unheil droht, wenn wir diese Grenze übertreten.

Gutjahr: Ja, Tabus haben Schutzfunktion für unsere psychische und physische Integrität. Sie leiten auch jenseits des gesetzlich Vorgeschriebenen unser Verhalten in allen nur denkbaren Beziehungen.

Adloff: Genau. Ich habe Sie beide zum Beispiel nicht einfach angefasst, eine bestimmte Körperdistanz würden wir drei nicht unterschreiten. So schützen wir unseren physischen Raum, da liegt eine imaginäre Grenze. Sie würden sofort spüren, wenn diese überschritten wird, dann fühlen Sie sich plötzlich unwohl, aber Sie können nicht die Polizei holen.

Dann schränken Tabus den Aktionsradius eines Menschen nicht nur ein, sondern sie geben ihm auch Halt.

Gutjahr: Unbedingt. Über Tabus schützen wir, was uns für das verträgliche Zusammenleben wichtig ist. Wir schützen damit auch unsere eigene Verletzlichkeit. Wir klopfen etwa keinem offensichtlich Trauernden auf die Schulter und fragen jovial: „Na, wie geht’s denn so?“ Wir wissen um Grenzen, die bei anderen und uns selbst zu respektieren sind. Vor allem einen hilfsbedürftigen Menschen auszunutzen, stellt einen gravierenden Tabubruch dar. Wenn jemand verletzt auf der Straße liegt, dann ist Hilfe geboten. Fotos sind absolut tabu. Ohne dass wir darüber nachdenken, ist aber auch unser ganz alltägliches Verhalten von Tabus geleitet. Wir müssen uns nur gegenseitig anschauen: Wir haben uns Kleider angezogen und kommen nicht halbnackt zu einem Interview.

Ach, das wäre ganz lustig für das Foto gewesen ... Es gab eine Diskussion, als Til Schweiger seine 16-jährige Tochter auf den Mund küsste, handelte es sich dabei um einen Tabubruch?

Adloff: Wenn sie 6 Jahre alt gewesen wäre, hätte es niemanden gestört, so jedoch scheint es ein Tabubruch gewesen zu sein.

Gutjahr: Ob etwas als Tabubruch wahrgenommen wird, hängt immer auch vom Kontext ab. Die aktuelle metoo-Debatte spielt hier sicherlich eine Rolle. Sie ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie Tabubruch und Tabubestärkung Hand in Hand gehen können: Zunächst überwinden Opfer von Tabubrüchen ihre Schweigetabus. Umgehend greifen die Medien das Thema auf und steigern seine Virulenz. Weitere Opfer finden den Mut zu sprechen. Und in der Bevölkerung insgesamt nimmt die Achtsamkeit für sexuelle Übergriffe und deren Tabuisierung tendenziell zu. Das Tabu geht also geradezu gestärkt aus der Debatte hervor. Wie sich hier zeigt, ermöglicht erst die Aufhebung von Schweigetabus die Aufarbeitung von Tabubrüchen, wie dies auch bei den Missbrauchsskandalen in Fürsorgeeinrichtungen und innerhalb der katholischen Kirche der Fall ist.

Welche Tabus und Tabuüberschreitungen beschäftigen uns heute gerade besonders?

Adloff: Im 21. Jahrhundert scheinen wir das Kollektiv plötzlich wieder zum Heiligtum zu erklären. Das kann eine Fußballmannschaft sein oder, noch größer, eine Nation. Die rechtspopulistische Bewegung möchte das Tabu brechen, dass der Nationalismus nach 1945 mit einem Tabu belegt wurde. Da geht es um eine Rehabilitierung nationalistischen Denkens, um eine völkische Sakralisierung des Kollektivs.

Funktioniert gesellschaftlicher Wandel immer auch durch Tabubruch? Jede Revolution hat ja ihre Tabus brechenden Protagonisten und Märtyrer.

Adloff: Gesellschaftlicher Wandel hat mit einer Veränderung der Werte und Normen zu tun. Für manche Gruppen bestehen Tabus noch, für andere schon nicht mehr. Ich habe das letztens beim Thema Kindererziehung beobachtet. Ein Kind war mit seinen Großeltern unterwegs, und meiner Meinung nach verhielt es sich ganz normal, es hatte seinen eigenen Willen, gab Widerworte, aber die Erwartungsstruktur der Großeltern stammte noch aus einer ganz anderen Zeit. Der Großvater hat sich wahnsinnig aufgeregt und wusste nicht, was er tun sollte. Er sah es als Tabubruch an, dass ihm ein „Zwerg auf der Nase rumtanzte“ – so seine Formulierung. Dieser Bruch führte zu heftigen Reaktionen. Ein anderes Beispiel: Gewalt in der Ehe. Heute für uns nicht vorstellbar, doch früher gab es eine gewisse Legitimität, ein Mann stand nicht außerhalb der Gesellschaft, wenn er seine Frau „züchtigte“.

Gutjahr: Als in der 68er-Generation bspw. offen über Sexualität und Abtreibung gesprochen wurde, begünstigte das eine Öffnung der Gesellschaft für diese Themen und eine Liberalisierung der Gesetzgebung. Solche Auflösungen von Tabus bedeuten aber nicht, dass wir nun in einer enttabuisierten Gesellschaft leben.

Gibt es Tabus, die neu etabliert werden?

Gutjahr: In vollem Gange ist die Diskussion darüber, welche Tabus in den sozialen Medien gelten sollen. Wir befinden uns hier mitten in einem Aushandlungsprozess. Auch in der politischen Debatte: Im Sommer dieses Jahres hat sogar der Präsident des Bundesverfassungsgerichts einen verantwortungsvollen Umgang mit Sprache in der Flüchtlingsdebatte angemahnt. Er erinnerte daran, dass eine Rhetorik tabu ist, die Assoziationen zum NS-Unrechtsstaat weckt. Vor dem Hintergrund politischer Erosionen und Enttabuisierungen wird hier an Tabus erinnert, die dem Schutz von Werten dienen.

Adloff: Ich bin da nicht so optimistisch, ob es gelingt, dieses Tabu zu schützen. Das ist eine Frage von den Kräfteverhältnissen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Wir kämpfen gerade extrem um unsere Tabus, da bröckelt ein Konsens.

Sigmund Freud hat sich in seiner kulturkritischen Schrift „Totem und Tabu“ intensiv mit Tabus auseinandergesetzt. Zitat: „Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“ Wie meint er das?

Gutjahr: Freud fragte sich, warum Tabus in der Menschheitsentwicklung entstanden sind. Und er meint: „Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht verbieten.“ Von daher kommt er zu dem Schluss, dass sich erst mit dem universalen Tötungstabu und dem Inzesttabu so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen etablieren konnte. Tabus haben also die Funktion, zu deckeln, was sozial unverträglich ist. Dabei geht es besonders um die Eindämmung von Aggression.

Sorry, Freud, ich bin nicht deiner Meinung. Aber wo wir schon vom Aufbegehren sprechen: Wogegen sollen die Jugendlichen heute aufbegehren, welche Tabus könnten sie wie damals die 68er brechen?

Adloff: Was wäre denn, wenn die Kinder heute plötzlich sagen: Ich will mich nicht erklären. Sie müssen ja bislang für alles einen Grund angeben. Wenn sie sich dem diskursiven Stil der Mittelschichten einfach verweigern. Einfach sagen: Nein, mache ich nicht, Mama. Ohne Begründung.

Gutjahr: Wichtig ist ja die Möglichkeit, vermittelte Tabus zu hinterfragen. Wenn die Elterngeneration dafür offen ist, können Redetabus auf beiden Seiten aufgebrochen werden. Das ist bestimmt nicht immer einfach. Vielleicht sogar schmerzlich. Aber eine große Chance.

Wer wacht eigentlich über die Einhaltung von Tabus?

Adloff: Wir alle zusammen. Und wir verändern sie. Nehmen wir mal die Schulhofkeilerei. Die ist heute ein Problem, früher war das normal, da sagte man, so sind die Jungs eben. Heute wird sie tabuisiert und die Gewalt von Mädchen noch viel mehr.

Gutjahr: Die Künste übernehmen eine wichtige Rolle. Sie greifen latente Tabus auf und bringen mit ihren Mitteln zur Darstellung, was so bisher nicht fassbar war. Grundsätzlich ist aber jeder von uns in einem stetigen Prozess des Austarierens: Wie weit kann ich gehen?