Wahrnehmung kann sehr unterschiedlich sein – und Lügen schwer zu erkennen. Zwei Experten über Realität und “Fake News“.

Wenig beschäftigt die Menschheit so sehr wie die Suche nach der Wahrheit. Doch was ist wirklich wahr und was nur wahrscheinlich? Und wie gefährlich sind Lügen? Ein Gespräch mit dem Philosophen Dr. Alexander Dinges und dem Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Michael Brüggemann.

Versuchen wir uns der Wahrheit mit einem profanen Beispiel anzunähern: Für einen St.-Pauli-Fan war der Tag des HSV-Abstiegs einer der schönsten des Jahres, für einen HSV-Fan das Gegenteil. Und was ist nun die Wahrheit?

Dr. Alexander Dinges: Das ist ein Fall, bei dem es nicht klar ist, ob es eine objektive Wahrheit gibt.

Prof. Dr. Michael Brüggemann: Beides ist wahr. Für den St.-Pauli-Fan war es ein guter Tag, für den HSV-Fan nicht. Aber das sind keine Wahrheiten, sondern Meinungen. Und alle Meinungen sind zumindest subjektiv wahr. Das ist aber etwas anderes als Aussagen, die wir als Fakten ansehen.

Ist Fakt denn immer gleich Wahrheit?

Dinges: In der Philosophie würde man jedenfalls von einer engen Verbindung ausgehen. Wenn es ein Fakt ist, dass es regnet, dann ist es auch wahr, dass es regnet.

Wobei es zu verschiedenen Fragen unterschiedliche Fakten geben kann. Nehmen wir mal die Frage, ob man sein Kind impfen lassen soll. Impfgegner werden nicht müde, jede Menge Fakten dagegen zu präsentieren …

Brüggemann: Die Impfgegner beziehen sich auf eine Studie aus dem vergangenen Jahrhundert, die längst zurückgezogen wurde, weil sie falsch war. Wenn man sich die Argumente der Wissenschaft ansieht, würde man schnell erkennen, dass es in Wahrheit vernünftig ist, seine Kinder impfen zu lassen.

Dinges: Man muss zwischen zwei Fragegruppen unterscheiden: Für die eine Gruppe gibt es keine objektiven Antworten. Für die andere kennt man diese Antworten einfach nicht oder ist noch auf der Suche danach.

Nennen Sie bitte einmal Beispiele.

Dinges: Eine subjektive Frage ist, ob der HSV-Abstieg erfreulich war. Das kann für die eine Person wahr sein und für die andere falsch. Eine objektive Frage ist, ob sich das Klima wandelt. Hier kann man sich nur fragen, ob wir wirklich wissen, wie sich das Klima wandelt, weil gewonnene Erkenntnisse in unterschiedliche Richtungen deuten können.

Was sagt man Menschen wie Donald Trump, die den Klimawandel nicht für eine Wahrheit, sondern für eine Lüge halten?

Brüggemann: Man zeigt ihnen zum Beispiel die Berichte des Weltklimarates, in denen Tausende Wissenschaftler den Stand der Klimaforschung zusammentragen. Oder man bittet sie, sich einfach einmal in der Welt umzusehen, welche Auswirkungen der Klimawandel bereits hat. Man muss nur an den Nordpol fahren oder sich an den Alpen einen Gletscher angucken …

Dinges: Leider gibt es Leute wie Donald Trump, die offenbar kein besonders großes Interesse an der Wahrheit haben.

Woher kommt das?

Dinges: Man darf nicht unterschätzen, wie schwer es ist, die Wahrheit zu sehen, wenn man eine bestimmte Überzeugung hat. Wenn man damit in die Welt schaut, sieht man primär die Dinge, die die eigene Überzeugung bestätigen. Das ist etwas, was allen Menschen passiert. Man muss sich Mühe geben, um dem entgegenzuwirken.

Heißt das: Wenn man sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, muss man seine eigenen Überzeugungen und Einstellungen ständig überprüfen?

Brüggemann: Genau. Die Wissenschaft würde sagen: Sie müssen versuchen, Ihre eigene Meinung zu falsifizieren. Sie müssen also ständig nach Indizien suchen, die Ihre Meinung widerlegen. Die Psychologie des Menschen ist aber genau umgekehrt. Man will sich in seinen Einstellungen gern bestätigt sehen und neigt dazu, Fakten zu ignorieren, die der eigenen Weltsicht widersprechen.

Hilft uns das Internet bei einer Annäherung an die Wahrheit?

Dinges: Ich glaube schon. Natürlich gibt es im Netz viele irreführende Informationen. Trotzdem ist es auch eine riesige Quelle, um uns auf der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Aber man braucht Zeit, um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Und dabei muss man Informationen kritisch und mit gesundem Menschenverstand hinterfragen.

Brüggemann: Das stimmt einerseits. Andererseits findet man im Internet ja viel mehr Meinungen und vermeintliche Fakten, die das eigene Weltbild bestätigen, als früher. So kann man in die vielzitierten Filterblasen hineingeraten, die einem das Gefühl vermitteln, dass alle anderen Menschen genauso denken wie man selbst.

Die Frage bleibt, woher man weiß, ob etwas stimmt. Früher schlug man im Zweifel im Lexikon nach. Aber kann man heute genauso Wikipedia vertrauen? Ich habe selbst einen Wikipedia-Eintrag, in dem eben nicht alles richtig ist.

Brüggemann: Wir sind letztlich darauf angewiesen, auf gewisse Quellen zu vertrauen, zu denen ich auch Wikipedia zählen würde. Wenn wir solche Quellen benutzen, sollten wir aber unseren gesunden Menschenverstand nicht vergessen und uns immer fragen: Kann das überhaupt so sein, wie es dort steht?

Dinges: Manchmal hilft es, die Frage, ob man etwas weiß oder nicht, beiseitezulassen und sich zu fragen: Was ist wahrscheinlich und was weniger wahrscheinlich? Dann kommt man manchmal leichter der Wahrheit näher. Auch wenn man eventuell nicht weiß, ob ein Wikipedia-Eintrag richtig ist, bleibt es doch recht wahrscheinlich.

Also ist Wahrheit in Wahrheit nur größtmögliche Wahrscheinlichkeit?

Dinges: Nein. Auch sehr wahrscheinliche Aussagen können falsch sein.

Brüggemann: Daher müssen wir vorsichtig mit dem Verkünden von absoluten Wahrheiten sein. Man muss sich am Ende immer fragen, wie sicher man sich bei einer bestimmten Sache sein kann.

Je länger wir darüber reden, desto stärker komme ich zu der Erkenntnis, dass es in unserer Welt gar nicht so sehr um die Wahrheit, sondern vor allem um Meinungen geht. Man bekommt im Internet an jeder Stelle Empfehlungen oder Warnungen von anderen, die auf subjektiven Eindrücken beruhen.

Dinges: Das stimmt. Das Internet quillt über von solchen Meinungen, und sie beeinflussen unsere Entscheidungen. Aber selbst wenn 99 von 100 Reisenden auf einem Portal ein Hotel für eines der besten der Welt halten, ist das eben noch nicht unbedingt die Wahrheit.

Aber zumindest ein „alternativer Fakt“? Den Begriff hat auch der bereits angesprochene Donald Trump erfunden. Was sagen Sie dazu?

Dinges: Alternative Fakten gibt es nicht, jedenfalls nicht im Sinne von Trump bzw. Conway. Es ging ja damals darum, wie viele Menschen bei Trumps Amtseinführung gewesen sind. Und es konnten entweder nur weniger oder mehr als bei Obama sein. Beides zusammen geht nicht …

Brüggemann: Es war schlicht gelogen, dass bei Trump mehr Menschen waren als bei Obama.

Bei Demonstrationen haben wir aber oft die Situation, dass der Veranstalter die Zahl der Teilnehmer viel höher schätzt als zum Beispiel die Polizei. Wer hat denn da recht?

Brüggemann: Das müsste jemand sein, der nicht direkt beteiligt ist, also zum Beispiel der Journalist einer Zeitung, der sich ein unabhängiges Bild von der Situation macht. Um der Wahrheit möglichst nahezukommen, brauchen wir unabhängige Instanzen heute genauso wie früher.

Und dann werden diese unabhängigen In­stanzen als Lügenpresse beschimpft.

Brüggemann: Was an den oben beschriebenen Gründen liegt, dass jeder heute zu seiner eigenen Meinung viele Texte finden kann, die ihn bestätigen.

Es gibt diesen schönen Satz: Was wahr ist, muss wahr bleiben. Ist dieser Satz nicht Quatsch? Gibt es nicht Dinge, die vor 20 Jahren wahr schienen und es heute nicht mehr sind?

Dinges: Man muss immer in Betracht ziehen, dass sich auch die festeste Überzeugung irgendwann als falsch herausstellen kann. Aber das heißt dann, dass etwas, von dem man dachte, dass es wahr war, in Wahrheit nie wahr war.

Brüggemann: Dass die Wissenschaft ihre Erkenntnisse und Wahrheiten revidiert, ist ganz normal. Das heißt aber nicht, dass man alles immer wieder überprüft, also etwa den Klimawandel infrage stellt oder behauptet, dass die Erde doch eine Scheibe ist. Was wir heute als gesichertes Wissen annehmen können, ist doch eine ganze Menge. Darauf kann Forschung aufbauen.

Wenn sich eine Wahrheit als falsch herausstellt, sind die Leute enttäuscht und vielleicht zu Recht ihr Vertrauen in Instanzen wie Wissenschaftler erschüttert.

Dinges: Man muss sich aber fragen, wie oft das passiert. Fälle, in denen vermeintliche Wahrheiten revidiert werden, bleiben uns eher im Gedächtnis als Fälle, in denen sie Bestand haben.

Brüggemann: Für Wissenschaft ist es trotzdem ein Risiko, die eigenen Zukunftsprognosen als absolute Wahrheiten darzustellen. Wir müssen zugeben, dass wir die Zukunft nicht voraussagen können, selbst wenn zum Beispiel unsere Klimamodelle immer besser werden.

Sie kommen aus unterschiedlichen Fakultäten. Welche Rolle spielt die Wahrheit in der Philosophie?

Dinges: Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ganz gleich aus welchem Bereich, suchen nach der Wahrheit. Als Philosoph fragt man sich auch sehr allgemein, was Wahrheit überhaupt ist. Was heißt es überhaupt, von irgendeiner Aussage zu sagen, dass sie wahr oder falsch ist? Das ist eine philosophische Frage.

Gibt es auch eine philosophische Antwort darauf?

Dinges: Es gibt viele Antwortvorschläge. Einer ist, dass der Begriff der Wahrheit so fundamental ist, dass man ihn nicht aufsplitten kann in noch grundlegendere Begriffe. Das Beste, was man tun kann, um ihn zu verstehen, ist Beispiele wahrer Aussagen anzuschauen.

Wie ist es in der Kommunikationsforschung?

Brüggemann: Wir machen es uns etwas einfacher als die Philosophen. Wir sehen uns an, auf welche Wahrheiten sich die Gesellschaft, in der wir leben, verständigt hat und wer zu ihrer Konstruktion beiträgt. Unsere Wahrheiten sind also sozial konstruiert. Trotzdem gibt es Tatsachen, die unsere Welt prägen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat dies in den Satz gepackt: „Ohne Wasser macht die Qualle schlapp.“ Es gibt also Realitäten jenseits davon, wie die Gesellschaft sie konstruiert. Dem Klimawandel ist es zum Beispiel gleich, wie wir über ihn denken, am Ende wird er uns alle in der einen oder anderen Form betreffen. Aber wenn wir uns einreden, dass der Klimawandel harmlos ist, dann hat das Konsequenzen für unser Handeln, und deswegen ist es wichtig, die gesellschaftliche Kommunikation über Risiken zu erforschen.

Lassen Sie uns zum Schluss noch über das Gegenteil der Wahrheit sprechen. Über die Lüge.

Brüggemann: Natürlich wird gelogen. Die Philosophin Hannah Arendt sieht zum Beispiel ein natürliches Spannungsverhältnis zwischen Politik und Wahrheit.Weil wir aber heute in einer Gesellschaft leben, in der nahezu alle Informationen kursieren, ist es zunehmend riskanter, nicht die Wahrheit zu sagen. Die meisten Lügen werden herauskommen. Derjenige, der den Automanagern geraten hat, in der Diesel-Affäre lieber noch einmal weiterzulügen, hat sie schlecht beraten.

Sie haben recht: Es ist total schwer, eine Lüge zu verbergen in unserer Zeit.

Dinges: Das ist vermutlich wahr.