Jeden Sonnabend im Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es um eine scheinbare Selbstverständlichkeit – und gleichzeitig um das Insektensterben.

Vergiftet, verdrängt, verschollen“ hieß die Überschrift, unter der das Hamburger Abendblatt in der vergangenen Woche über das Insektensterben in Deutschland berichtete. Von den rund 8000 Insektenarten, die es bei uns gibt, sind 42 Prozent zumindest gefährdet. Die Bundesregierung nennt diese Entwicklung dramatisch und sieht einen „aktuellen Handlungsbedarf“... Und was machen wir? Wir setzen im Hamburger Abendblatt unsere Reihe „Die großen Fragen des Lebens“ mit einer Frage fort, die innerhalb der Redaktion nicht unumstritten war – die jetzt aber ideal passt. Darf man Mücken töten? Die meisten Menschen denken nicht lange über eine Antwort nach, wenn sie gestochen werden oder gestochen werden könnten, und schlagen einfach zu. Ist das erlaubt? Was sagt unser Umgang mit den Mücken über unser Verhältnis zu und unseren Umgang mit Insekten allgemein aus? Und welches Mittel hilft wirklich gegen Mücken? Über diese und viele andere Fragen hat das Hamburger Abendblatt mit dem Tropenmediziner Stefan Schmiedel und dem Entomologen (Insektenkundler) Martin Husemann gesprochen.

Ganz gleich, mit wem ich über unsere heutige Frage in den vergangenen Tagen gesprochen habe – ich habe damit immer ein längeres, intensives Gespräch ausgelöst. Dabei ist die Frage doch scheinbar so banal. Herr Schmiedel: Darf man Mücken töten?

Schmiedel: Aus medizinischer Sicht: Ja, manchmal muss man es sogar.

Und aus Sicht des Insektenkundlers?

Husemann: Wenn man nur von der einzelnen Mücke spricht, dann darf man die sicher töten. Aber wenn es nicht nur um das Individuum geht, sondern um eine Art, sage ich: Aus ökologischer Sicht darf man eine Art nicht töten, auch wenn sie für uns unangenehm ist.

Wie handhaben Sie es persönlich mit Mücken, die Sie ärgern? Erschlagen?

Husemann: Das kommt sicherlich mal vor. Ich habe ein kleines Kind, das ich im Zweifel vor dem Stich einer Mücke schützen will und dann schnell reagieren muss. Aber, wie gesagt: Das einzelne Lebewesen ist auch nicht besonders relevant für den Fortbestand der Art.

Schmiedel: Ich versuche schon aus ethisch-moralischen Gründen, Mücken nicht zu töten, wenn es möglich ist. Aber es gibt Situationen, in denen man aus medizinischen oder ökologischen Gründen eine systematische Bekämpfung durchführen muss.

Welche Situationen sind das?

Schmiedel: In vielen Teilen dieser Welt sind ja Mücken nicht nur lästig, sondern übertragen bedrohliche Erkrankungen. Jedes Jahr sterben Hunderttausende Kinder allein in Afrika durch eine von Mücken übertragene Malaria.

Husemann: Es wird zu Recht gesagt, dass Mücken für Menschen die gefährlichsten Tiere sind, die es gibt.

Für Deutschland gilt das ja zum Glück nicht mehr.

Schmiedel: Aber das ist noch gar nicht so lange so. In den 50er-Jahren gab es zum Beispiel in Ostfriesland jede Menge Malaria-Fälle. Was ganz klar gesagt werden muss: Das Töten von Mücken ist nicht die Lösung von gesundheitlichen Problemen, die durch Mücken übertragen werden. Die Menschen in Afrika sterben ja nicht an den Mückenstichen. Sie sterben daran, dass es dort keine vernünftigen Behandlungsmöglichkeiten gegen Malaria gibt und stattdessen hygienische Bedingungen, die zu viel zu großen Mückenpopulationen führen. Die Mücke ist nicht das eigentliche Problem, was man in Deutschland sehr gut sieht: Wir haben nämlich bei uns die Malaria nicht ausgerottet. Die Krankheit ist verschwunden, weil wir hier andere medizinische und hygienische Bedingungen haben. Mücken, die Malaria übertragen könnten, gibt es auch in Deutschland nach wie vor.

Ich kann weder einer Fliege noch einer Mücke etwas zuleide tun. Ich habe mal in einer Nacht zwölf Mücken aus dem Zimmer meiner Kinder gefangen und im Garten wieder freigelassen. Finden Sie das auch seltsam wie so viele andere, denen ich davon erzählt habe?

Husemann: Vorbildlich.

Schmiedel: Viele Philosophien bewerten das so. Aus buddhistischer oder hinduistischer Sicht ist das auf jeden Fall sehr gut fürs Karma.

Sie nehmen mich nicht ernst. Haben Sie selbst Kinder? Und was bringen Sie denen im Umgang mit Mücken und anderen Insekten bei?

Husemann: Aus pädagogischer Sicht finde ich es sehr gut, wenn man Mücken nicht erschlägt. Ich gehe mit meiner Tochter regelmäßig in den Garten, um ihr Insekten zu zeigen. Und wenn sie dann zufassen will, halte ich sie zurück. Ich will sie an die Schönheit der Tiere heranführen. Je mehr man davon kennt, desto weniger wird man Tiere umbringen wollen.

Schmiedel: Meine Familie versucht auch, anderen Lebewesen Respekt entgegenzubringen. Wir töten sie nicht, wenn es nicht nötig ist, und meist ist es nicht nötig. Das ist vielleicht der Kern einer Antwort auf unsere Ausgangsfrage: Man soll nicht grundlos Tiere töten. Und dass man eine Mücke tötet, weil sie einen gestochen hat, halte ich für einen schlechten Grund.

Husemann: Wenn man aber bedenkt, wie viele Insekten jeden Tag auf der Autobahn sterben …

Das ist im wahrsten Sinne des Wortes das Totschlagargument, mit dem alle Mücken-Feinde kommen …

Schmiedel: Zu diesem Punkt würde ich gern etwas vom Insektenkundler wissen. In meiner Erinnerung ist es so, dass in meiner Kindheit nach einer Autobahnfahrt viel mehr Insekten am Nummernschild oder der Windschutzscheibe klebten als heute. Stimmt das?

Husemann: Dazu gab es gerade eine große Studie, das sogenannte Krefeld-Experiment. Dabei wurde festgestellt, dass die Insektenbestände sich in bestimmten Gebieten um bis zu 80 Prozent verringert haben, das heißt: Vier Fünftel der Insekten sind in einem Zeitraum von rund 30 Jahren verschwunden.

Und was bedeutet das für unser Ökosystem?

Husemann: Das verstehen wir im Detail alles noch nicht. In China werden Blüten ja mittlerweile zum Teil per Hand bestäubt. So weit sind wir nicht, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht dorthin kommen. Wir sind an einem sehr kritischen Punkt, und ob sich die beschriebene Entwicklung umkehren lässt, ist fraglich.

Schmiedel: Warum hat denn der Insektenbestand so radikal abgenommen?

Husemann: Hauptgrund ist sicher, dass der Lebensraum für Insekten abgenommen hat. Dazu kommt die immer intensivere Landwirtschaft, in der wir Insekten im großen Stil töten müssen, weil sonst die Erträge nicht ausreichen würden. Es ist ein Zusammenspiel von vielen verschiedenen Faktoren, die so stark sind, dass die Populationen zusammenbrechen. Und niemand kann heute sagen, welche Auswirkungen das langfristig auf den Menschen haben wird.

Schmiedel: Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir auch weiterhin Insekten bekämpfen müssen, um als Menschen zu überleben. Das ist ein klassisches Dilemma. Einerseits brauchen wir Insekten, andererseits sind sie gefährlich für uns.

Kommen wir zu den Mücken zurück: Was hilft gegen die denn nun wirklich, wie lässt sich ein Stich vermeiden?

Schmiedel: Was gut funktioniert ist DEET …

Also Autan.

Schmiedel: DEET ist in Autan, aber auch in vielen anderen Mitteln enthalten. Durch den Wirkstoff wird der Orientierungssinn der Mücken genauso wie durch Icaridin gestört, was den Menschen mehrere Stunden vor einem Stich schützen kann. Diese Mückenabwehrmittel sind deutlich besser als Naturmittel, also zum Beispiel ätherische Öle. Was sonst noch hilft, ist eine gewisse Luftbewegung.

Husemann: Und natürlich Netze. Man sollte möglichst alles versuchen, um Mückenstiche zu vermeiden, dann hat man unser ethisches Problem erst gar nicht.

Herr Husemann, Sie haben vorhin so nett gesagt, dass Sie Ihrer Tochter die Schönheit aller Lebewesen zeigen wollen. Wie geht das mit einer Mücke?

Husemann: Die Schönheit einer Mücke erschließt sich uns nur deshalb nicht, weil sie so klein ist. Wir stellen bei uns im Institut jetzt ein stark vergrößertes Modell einer Mücke aus, an dem man erst erkennt, was für wunderschöne Tiere das in Wahrheit sind. Wir haben quasi aus der Mücke einen Elefanten gemacht – oder zumindest einen Hund …

Wie lange lebt so eine Mücke eigentlich?

Schmiedel: Die lebt so etwa sechs Wochen.

Das ist wieder ein starkes Argument für alle, die Mücken erschlagen. Die werden jetzt sagen: Auf eine Woche mehr oder weniger kommt es nicht an.

Schmiedel: Vielleicht muss man denen sagen, dass sie jedes Mal eine junge, weibliche Mücke erschlagen. Denn es sind nur diese Mücken vor ihrer ersten Geschlechtsreife, die überhaupt stechen.

Das ist interessant: Nur die jungen Frauen stechen. Und die Männer?

Schmiedel: Die ernähren sich von Pollen.

Husemann: Es ist ganz häufig bei Insekten so, dass nur die Weibchen stechen.

Welche Rolle spielt das Blut dann, warum brauchen die Weibchen das?

Husemann: Überleben könnten die Weibchen auch ohne Blut, aber sie brauchen es für die Eiablage.

Schmiedel: Und dafür benötigen sie einmal in ihrem Leben Blut.

Das kann von Menschen oder von Tieren kommen. Haben bestimmte Mücken da bestimmte Vorlieben?

Schmiedel: Viele Mücken sind spezialisiert. Die einen gehen besonders gern auf Menschen, und lösen bei denen auch wenige Reaktionen aus, das heißt, die Stiche jucken kaum und werden nicht sehr groß. Und dann gibt es Mücken, die lieber auf Tiere gehen. Wenn die dann mal einen Menschen stechen, fallen die Reaktionen deutlich heftiger aus.

Husemann: Weil sich diese Mücken nicht an den Menschen angepasst haben.

Schmiedel: Die Mücken, die Malaria übertragen, haben sich zum Beispiel so gut an den Menschen angepasst, dass ihre Stiche kaum Reaktionen zur Folge haben. Viele Malaria-Patienten, die zu uns ins Krankenhaus kommen, sagen mir: Ich kann mich gar nicht infiziert haben, ich bin nicht gestochen worden.

Kann man sagen: Je größer die Stichreaktion, desto wahrscheinlicher ist es, dass man von einer Mückenart gestochen wurde, die sonst eher auf Tieren unterwegs ist?

Husemann: Allgemein kann man das so sagen, aber die Reaktionen sind individuell verschieden.

Jedes Lebewesen ist auf dieser Welt für etwas gut. Warum brauchen wir Mücken?

Husemann: Mücken sind für sehr viele Tiere Nahrungsgrundlage.

Schmiedel: Und sie sind ja auch wichtig für einen effektiven, speziesübergreifenden Transport von Viren und Parasiten, das ist für die Evolution der Lebewesen wahrscheinlich sehr nützlich. Einige Spezies von Parasiten brauchen Stechmücken für ihre Vermehrung, der Malaria-Parasit könnte zum Beispiel ohne Mücken in unserer Welt nicht überleben.