Hamburg. Experten berichten, wie uns Erinnerungen trügen, warum Nostalgie so populär ist und in welcher Epoche das Leben am schönsten war. Teil 5 der Serie.

Bildung, Kommunikation, Hygiene, Sicherheit, Medizin, Menschenrechte – vieles hat sich im Lauf der Zeit weiterentwickelt. Dennoch ist der sehnsüchtige Blick in die Vergangenheit gerade populär. Der Historiker Prof. Christoph Dartmann und der Kognitionspsychologe Prof. Lars Schwabe von der Universität Hamburg über ein seltsames Phänomen.

Bei der Annahme „Früher war alles besser“ vergleichen die Menschen Erlebnisse von heute mit ihren Erinnerungen. Wie korrekt sind unsere Erinnerungen?

Prof. Lars Schwabe: Je länger eine Erinnerung zurückliegt, desto ungenauer wird sie. Vom Prinzip her nicht schlecht, denn unsere kognitive Effizienz würde nur belastet, wenn wir uns immer an alles genau erinnern. Wenn jemand meint, früher sei alles besser gewesen, dann spielt da auch ein banaler Mechanismus eine Rolle: Der Schmerz von heute tut immer mehr weh als der von gestern. Stehen wir in diesem Moment vor akuten Problemen, stellt das eine starke Herausforderung dar. Schauen wir zurück, wissen wir zwar insgeheim, dass da keineswegs immer alles wundervoll war, aber so belastend wie heute empfinden wir im Vergleich fast nichts mehr. Neben dem Früher, das wir selbst erlebt haben, beobachte ich aber eine Verklärung des Früher, das nicht mal unsere direkten Vorfahren erlebt haben. Ein interessantes Phänomen, dass beide Blicke zurück einen gewissen Reiz ausmachen. Es sagt viel über die Gegenwart aus, wenn wir uns stark in die Vergangenheit sehnen.

Aber was konkret bedeutet das? Ich fürchte, nichts Gutes.

Prof. Christoph Dartmann: Der Soziologe Zygmunt Bauman sagt in seinem Buch „Retrotopia“, dass das Zutrauen der Menschen in eine gute Gegenwart und bessere Zukunft erschüttert sei, sie wenden sich stattdessen einer angeblich guten alten Zeit zu. Genau das Gefühl hat Trump bedient mit seinem Spruch „Make­ America great again“. Nicht vorwärts soll es gehen, sondern zurück zu alter Größe. Das Gleiche bei der Brexit-Entscheidung: Dort wurde von den Befürwortern eine Commonwealth-Nostalgie heraufbeschworen. Die AfD spielt ebenfalls auf dieser Klaviatur, indem sie von einem Früher schwärmt, als Männer noch Männer sein durften, als es noch Autoritäten gab und die Welt überschaubar war.

Manchmal ist also gar nicht die Erinnerung an sich verfälscht, sondern ihre Darstellung.

Dartmann: Genau, gerade bei der Frage, an welche Vergangenheiten man sich erinnern möchte innerhalb einer Gesellschaft. Im Moment erleben wir in Deutschland einen richtigen Kampf um Erinnerung, eine Umdeutung der Vergangenheit, wenn zum Beispiel die AfD versucht, die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert positiv umzukodieren, um sie zu instrumentalisieren.

Keine Erinnerungen an erste Lebensjahre

Kann es sein, wenn ich eine Geschichte immer wieder auf die gleiche unzutreffende Weise erzähle, dass ich sie irgendwann sogar selbst glaube?

Schwabe: Durchaus. Wenn ich mir selbst permanent etwas einrede, kann das in die Überzeugung münden, es habe sich tatsächlich so zugetragen. Sehr häufig wird unsere Erinnerung auch durch externe Informationen wie etwa Berichte von Familienangehörigen verfälscht. Der Klassiker ist die infantile Amnesie. Niemand kann sich an Ereignisse aus den ersten drei, vier Lebensjahren erinnern, aber durch die Erzählungen der Eltern und den Blick in die Familienalben meint man irgendwann, man habe an bestimmte Szenen eine reale Erinnerung, was extrem unwahrscheinlich ist.

Wie deprimierend für Sie, Herr Schwabe, und für mich, wir haben beide kleine Kinder, und nun soll es ganz egal sein, was wir tun, weil ohnehin alles vergessen wird?

Schwabe: Auf den ersten Blick verhält es sich so. Doch Erinnerungen können auf unterschiedliche Art und Weise gespeichert werden, nicht nur im explizit zugänglichen Teil des Gehirns. Es gibt auch emotionale, weniger zugängliche Bereiche im Gehirn, da werden Erfahrungen schon relativ früh abgelegt, und die sind für das weitere Leben sehr prägend.

Nehmen wir mal unsere gefühlte Wahrheit, dass die Sommer früher besser waren, egal was die Wetterexperten in ihren Jahrhundert-Temperaturkurven beweisen. Erinnern wir nur Sommertage, weil wir das Schöne besser abspeichern oder weil wir nur bei Sonnenschein Fotos gemacht haben, also auch Jahre später nur bildliche Beweise für fantastisches Wetter vorliegen haben?

Schwabe: Was dokumentiert ist, spielt wirklich eine Rolle. Und einige Ereignisse haben einen sogenannten Erinnerungsvorteil, nämlich wenn sie extrem negativ oder extrem positiv waren. Freibadbesuche oder Ferien sind meistens sehr schöne Erlebnisse, werden dadurch besser abgespeichert als der Regentag, den man gelangweilt zu Hause verbracht hat.

Gewinn an Selbstbestimmung

Heute werden Fotos mit dem Smartphone gemacht, auf Insta­gram und Facebook geteilt, unserem kollektiven Gedächtnis. Viele Eltern beklagen sich über ihren Nachwuchs, dass er nur am Handy hängt und es früher mehr verlässliche, reale Beziehungen gegeben habe. Professor Dartmann, Sie sind Experte für frühere Epochen, wie stark waren die Gemeinschaften, die Familien?

Dartmann: Im Mittelalter lebten Menschen über viele Generationen in einem bestimmten Dorf in sehr überschaubaren Gemeinschaften. Dort herrschte eine starke Sozialkontrolle untereinander. Die Annahme, früher habe es mehr Stabilität gegeben, erzählt eine Verlustgeschichte. Das stört mich. Heutzutage habe ich mehr Möglichkeiten, die Welt zu sehen, habe mehr Möglichkeiten, selbst zu wählen, wo ich leben möchte. Dieses negative Narrativ von Verlust, das in jedem „Früher war alles besser“-Satz steckt, trifft meiner Meinung nach nicht zu.

Statistisch gesehen leiden wir aber an einem Verlust von Bindungen: 40 Prozent aller Ehen werden geschieden.

Dartmann: Ich kann diese Zahlen auch als ein Gewinn von Selbstbestimmung definieren. Ich muss nicht in einer Beziehung bleiben, weil ich sie einmal eingegangen bin. Wenn mich mein Partner beispielsweise schlägt, dann kann ich gehen. Diese Option hatten viele Frauen zu anderen Zeiten nicht. Diese Statistik erzählt also nicht nur den Verlust von Bindung, sondern auch den Gewinn von Gestaltungsmöglichkeiten und eine Veränderung der Machtverhältnisse. Meine Mutter musste meinen Vater zu Beginn der 70er-Jahre noch um Erlaubnis fragen, als sie nach meiner Geburt wieder arbeiten wollte. Da hatte er zu unterzeichnen, dass er „sie freigibt, einen Teil ihrer Zeit der Berufstätigkeit zu widmen“ und nicht nur der Aufzucht der Kinder. Im 20. und 19. Jahrhundert wurden die Frauen stärker unterjocht als im Mittelalter. Da ging es um den Stand, dem man angehörte, nicht um das Geschlecht.

Woran liegt es, dass das Mittelalter – das Gegenbild der Moderne – gerade einen eigentümlichen Boom in der Kultur erlebt? Der riesige Erfolg der Serie „Game of ­Thrones“ oder immer neue Mittelaltermärkte kommen ja nicht aus dem Nichts.

Dartmann: Das Mittelalter wird oft gesehen als eine Zeit, die noch nicht so technisiert war, nicht so überzivilisiert, in der man sich authentischer fühlen konnte. Den Begriff „authentisch“ höre ich oft. Mir persönlich erscheint es allerdings unattraktiv, auf diesen Märkten Lebensmittel zu verzehren, die hygienischen Standards von heute nicht entsprechen, dafür aber umso teurer sind.

Es geht nicht mehr ums reine Überleben

Geld ist ein gutes Stichwort: Zu meiner Kindheit kostete eine Kugel Eis 10 Pfennig, heute sind es mindestens 1,10 Euro, vielen Menschen drängt sich der Eindruck auf, alles sei teurer geworden. Tatsächlich hat sich unsere Kaufkraft vervielfacht. Warum täuscht uns unser Preisgefühl?

Schwabe: Das ist psychologisch gut erforscht. Es hat mit unserem subjektiven Wert von Gewinn und Verlust zu tun. Uns schmerzen Verluste einfach mehr, als uns Gewinne Freude verschaffen. Wenn wir 10 Euro gewinnen, freuen wir uns darüber nicht so sehr, wie uns ein Verlust von 10 Euro ärgert.

Dartmann: Wichtiger als die Geldfrage ist doch, dass sich die reine Frage des physischen Überlebens heute für uns Deutsche nicht mehr stellt. Wir sind ausreichend mit Lebensmitteln versorgt, das war vor wenigen Jahrhunderten anders, als Missernten in einer Region zu verheerenden Hungersnöten führten.

War das Landleben früher so erschöpfend wie unsere Arbeit heute?

Schwabe: Unser Stress heute ist im Vergleich zu früher weniger essenziell, er hat nichts mehr mit dem Überleben zu tun. Es sind eher Vergleiche: Was machen andere? Welche Erwartungen werden an mich gestellt? Viele fürchten sich vor diesen Anforderungen.

Dartmann: Wenn ich die vorindustriellen Produktionsbedingungen betrachte, dann war vieles nicht so eng getaktet wie heute. Die Handlungen in einer bestimmten Zeit haben sich immer weiter verdichtet. Ein mittelalterlicher Händler wusste, dass er mit dem Schiff zwei Monate braucht zwischen Alexandria und Venedig. Wenn ein Sturm kam, musste er in den Hafen, um nicht unterzugehen. Bei Flaute kam er nicht voran. Das war nicht zu ändern. Die Erwartungen an termingerechtes Agieren und Planbarkeit haben massiv zugenommen. Unser Leben wird geprägt von der Orientierung an anderen, Konkurrenz und Leistungsoptimierung, nicht nur im Beruf. Wir wollen unseren Kindern die besten Chancen ermöglichen, die beste Mutter, der beste Vater sein.

Leistung in der Schule spielt eine große Rolle. Manche sagen: eine zu große, und dass es die Kinder früher besser gehabt hätten in der Schule.

Schwabe: Als der Rohrstock noch eingesetzt wurde, ganz bestimmt nicht. Auch die Didaktik ist heute viel weiter. Allein wenn ich an die Vorlesungen denke, die ich besucht habe! Da legten einige Dozenten noch Overhead-Folien mit kopierten Buchseiten auf, und die wurden dann vorgelesen. Würde ich heute so unterrichten, gingen die Studierenden nach ein paar Minuten auf die Barrikaden.

Dartmann: Anstatt alles vorgesetzt zu bekommen, wird heute vermittelt, wie man sich Wissen erschließt. Die Fähigkeit, Probleme komplex zu diskutieren, anstatt eine Wahrheit gesagt zu bekommen. Wenn konservative Kreise das als Verlust eines Bildungskanons beklagen, beachten sie nicht, wie viel mehr auf der anderen Seite gelehrt wird. Außerdem: Inhalte, die früher mal von Bedeutung waren, sind es teilweise heute einfach nicht mehr.

Medizin ist heute definitiv weiter

Von der Bildung zur Medizin. Der US-Schriftsteller O’Rourke sagt: „Man braucht nur ein Wort, um deutlich zu machen, dass früher nichts besser war. Und das Wort lautet: Zahnärzte!“

Dartmann: Da erinnere ich mich an meinen ersten Zahnarzt, der noch meinte, dass Kinder keine Betäubung brauchen. Das sah ich anders, aber ich konnte ihn leider nicht überzeugen. Stellen Sie sich eine solche Szene heute vor. Undenkbar. Beim medizinisch-technischen Fortschritt ist die Frage, ob früher alles besser war, definitiv zu verneinen. Allein die Verfügbarkeit von Schmerzmitteln stellt eine unermessliche Verbesserung unserer Lebensqualität dar.

Wie man auf die Vergangenheit blickt, scheint etwas mit dem Alter zu tun zu haben. Die Überzeugung, dass sich die Lebensbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert haben, vertreten nämlich vor allem die 35- bis 55-Jährigen. Woran liegt das?

Schwabe: Wir sprechen von der Rush-Hour of Life. In dieser Zeit setteln sich viele beruflich und bekommen in dieser Phase erst Kinder, müssen also ganz unterschiedliche Aufgaben miteinander koordinieren. Verglichen mit der Zeit von vor vielleicht 20 Jahren, als man noch behütet zu Hause lebte, erscheinen einem all diese Anforderungen immens. So entsteht eine gewisse Wehmut.

Dartmann: Manchmal beginnt die Rückwärtsgewandtheit noch eher. Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit einem Studenten, der meinte, es sei so viel verloren gegangen im Vergleich zu früher, als es noch klare Hierarchien gab. Das war jemand, der die Ideologien des rechten Spektrums komplett übernommen hat. Ich fürchte, dass uns diese Vorstellungen in der Zukunft häufiger begegnen werden. Schon seltsam, wenn man von einem 20-Jährigen gesagt bekommt, dass früher alles besser war.

Schwabe: Bei jungen Leuten verstehe ich das genauso wenig. Ältere Menschen haben mit ihrer Aussage „Früher war alles besser“ aber häufig sogar recht, was ihre persönliche Situation betrifft. Wenn sie beispielsweise Freunde oder Familienmitglieder verloren haben. Oder ihre Aufgaben, ihre Erfüllung durch einen Job.

"Keine bessere Zeit vorstellen als die jetzige"

Das Alter war früher immer besser.

Schwabe: Man geht davon aus, dass Zufriedenheit im Alter stark von der Fähigkeit abhängt, auf vergangene Ereignisse positiv zurückzuschauen und nicht mit Bedauern. Wer sich der tollen Sachen, die er erlebt hat, bewusst ist und daraus eine gewisse Dankbarkeit entwickelt, der ist zufriedener.

Zu welcher Zeit hätten Sie beide am liebsten gelebt?

Schwabe: Ich will die Probleme in unserer Zeit nicht kleinreden, aber ich kann mir keine bessere Zeit vorstellen als die jetzige. Mir fallen viele abschreckende Epochen ein. Wenn ich an das Mittelalter mit seiner geringen Lebenserwartung und hoher Kindersterblichkeit denke, an die hygienischen Bedingungen, die mangelnde Grundversorgung bei weiten Teilen der Bevölkerung, da bin ich sehr dankbar, was wir hier in Deutschland haben.

Dartmann: Ich würde gar nicht so weit zurückgreifen. Ein Mann wie ich, der um 1900 geboren wäre, der hätte den Ersten Weltkrieg erlebt, die Gewalt auf den Straßen in der Weimarer Republik, das Zerbrechen der Demokratie, das Dritte Reich und dann schließlich stünde er in Hamburg in einer zerbombten Stadt, nicht wissend, wie es weitergeht. Deshalb schätze ich es sehr, in meiner Generation zu leben. Allein das Maß der Sicherheit, das wir genießen! Niemand greift uns einfach so an, da lebten die Menschen im Vergleich zu anderen Jahrhunderten viel gefährlicher.

Also mit einem Satz zusammengefasst: War früher alles besser?

Dartmann: Es war anders.

Schwabe: Heute ist vieles besser.

Die Experten

Christoph Dartmann ist seit 2015 Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Der 48-Jährige hat in Westfalen und in Italien studiert, ist aber mittlerweile bekennender Norddeutscher. Als Historiker befasst er sich mit der Geschichte Italiens und des Mittelmeerraums, zuletzt aber immer intensiver auch mit der Wahrnehmung des Mittelalters in der Moderne, die allzu oft von einer Idealisierung der Vergangenheit geprägt war.

Lars Schwabe ist seit 2014 Professor für Kognitionspsychologie an der Universität Hamburg. Für seine Forschung zum Einfluss von Stress auf Lern- und Gedächtnisprozesse hat der 36-Jährige verschiedene nationale und internationale Auszeichnungen erhalten. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Literatur. Zudem verfolgt er die Spiele seines Lieblingsfußballclubs und ertappt sich hierbei in letzter Zeit wiederholt bei dem Gedanken, dass früher alles besser war.