Ein Jahr nach dem Scheitern des Luftsicherheitsgesetzes will Innenminister Wolfgang Schäuble doch noch den Abschuss entführter Flugzeuge ermöglichen. Dafür solle in der Verfassung ein so genannter Quasi-Verteidigungsfall geschaffen werden.

Frankfurt/Main. Ein Jahr nach dem Scheitern des Luftsicherheitsgesetzes will Innenminister Wolfgang Schäuble mit einer Grundgesetzänderung doch noch den Abschuss entführter Flugzeuge ermöglichen. Dafür solle in der Verfassung ein so genannter Quasi-Verteidigungsfall geschaffen werden. Der Vorschlag sei in seinem Ministerium auf Fachebene erarbeitet worden. Kritik an dem Vorhaben kam von Politikern der SPD, FDP und den Grünen.

Tötung von Unschuldigen ist das Problem Im Quasi-Verteidigungsfall gelten laut Schäuble die Regeln des Kriegsvölkerrechts, vor allem die Regeln des Genfer Abkommens über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte. Demnach seien nur Angriffe verboten, "die in keinem Verhältnis zu erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteilen stehen". Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bleibt laut Schäuble gewahrt, wenn zur Vermeidung einer noch größeren Katastrophe der Abschuss eines entführten Zivilflugzeugs, also die Tötung von unschuldigen Passagieren, gesetzlich erlaubt wird.

Das Bundesverfassungsgericht hatte die Abwägung "Leben gegen Leben" als Verstoß gegen das Grundgesetz verboten. Aus Sicht des Ersten Senats ist die Menschenwürde und das Recht auf Leben verletzt, wenn von dem Abschuss auch Passagiere und Besatzungsmitglieder betroffen wären. Das gelte selbst dann, wenn ein Flugzeug wie am 11. September 2001 als Terrorwaffe eingesetzt werden soll. Das Gericht hatte sich bei seiner Entscheidung aber nicht mit der Frage befasst, wie die rechtliche Situation im Verteidigungsfall zu bewerten sei, weil dies damals nicht zur Debatte stand.

Ist ein Terroranschlag ein Verteidigungsfall? Laut Schäuble wurde deshalb in seinem Haus geprüft, ob ein terroristischer Angriff als Verteidigungsfall gewertet werden könne, schreibt die Zeitung. Man habe sich zwar dagegen entschieden, den Angriff so zu benennen, stelle ihn aber dem Verteidigungsfall gleich. Der neue Verfassungsartikel solle deshalb lauten: "Außer zur Verteidigung sowie zur unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt." S chäuble erklärte, es sei im Koalitionsvertrag festgelegt worden, dass nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz geprüft werden solle, ob verfassungsrechtlicher Regelungsbedarf bestehe. Dieser Bedarf habe sich wegen des Urteils ergeben. Beim Bundesinnenministerium war am Dienstag zunächst kein Sprecher für eine Stellungnahme erreichbar.

Wiefelspütz findet Plan inakzeptabel Der SPD-Politiker Dieter Wiefelspütz bezeichnete Schäubles Pläne im selben Blatt als nicht akzeptabel. Die Opferung unschuldigen Lebens könne nur verlangt werden, wenn das ganze Gemeinwesen auf dem Spiel stehe. Der FDP-Politiker Max Stadler mahnte Schäuble, das Urteil zu respektieren. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des höchsten Gerichts sei rechtsstaatliche Konstante in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch die Grünen lehnen den Plan ab. "Schäuble versucht das Bundesverfassungsgericht zu hintergehen", sagte Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck der "Netzeitung." Mit einem Quasi-Verteidigungsfall würden die Grenzen zwischen Kriminalitätsbekämpfung und Krieg verwischt.