Berlin.

Rebecca Lorenz hatte gerade ihr Abitur geschafft, mit ihrem Freund wollte sie die Welt entdecken, ihre Zukunft planen – eigentlich. Doch ihre Welt blieb plötzlich stehen. Wie einen Film im Kopf kann sie diesen einen Moment immer wieder abrufen – den Moment, als sie vom Tod ihres Freundes erfuhr. „Ich kam nach Hause, seine Freunde waren da, und ich wusste, seine Freunde wären nicht da, wenn er da sein könnte“, erinnert sich Lorenz. „Ich habe nichts gesagt, denn ich wusste, was sie mir sagen wollen, das wollte ich gar nicht hören.“ Sie ging an ihnen vorbei ins Wohnzimmer, schloss die Tür hinter sich und brach zusammen.

Nur ein halbes Jahr zuvor hatte ihr Freund die Diagnose Hirntumor bekommen. Inoperabel. „Die Ärzte meinten damals, er könne entweder im Krankenhaus bleiben, damit sie ihn dort mit Schmerzmitteln versorgen“, so Lorenz, „oder einfach nach Hause gehen.“ Er ging nach Hause. Die beiden versuchten, das Leben zu genießen. Dann ging er für immer. Das war vor zehn Jahren.

Rebecca Lorenz und ihr Freund waren damals 19 Jahre alt. Ihre Trauer, ihren Schmerz, was passiert war – das alles konnte sie selbst kaum begreifen. Und ihre Freunde konnten nicht richtig nachempfinden, wie sie sich fühlte. Ihr Kosmos drehte sich um sich selbst und ihren tiefen Schmerz. Am liebsten wollte sie die Zeit zurückdrehen. Für ihr Umfeld ging das Leben gerade richtig los. „Jeder ist so – gerade nach dem Abitur – auf seine eigene Zukunft fixiert“, schildert Lorenz die Situation. „Jeder hat Dinge im Kopf, die alles sind, aber nicht Tod und Trauer.“

Wenige Angebote für trauernde Jugendliche

Ihre Erfahrung teilen viele Jugendliche, die einen geliebten Menschen verlieren: Von Gleichaltrigen erfahren sie relativ wenig Unterstützung. Dabei ist gerade die sogenannte Peergroup in dieser Lebensphase der Abnabelung so wichtig. Und auch sonst fällt es besonders jungen Menschen oft schwer, jemanden zu finden, mit dem sie die Situation verarbeiten können. Das Problem: Zur Trauerbewältigung gibt es zwar recht viele Angebote, vor allem Trauergruppen für Erwachsene und auch Kinder, jedoch vergleichsweise wenige speziell für Jugendliche.

Durch ihre Tante erfuhr Lorenz nach einem knappen Jahr schließlich vom Start des Internet-Trauerchats doch-etwas-bleibt.de, eine Plattform für trauernde Jugendliche und junge Erwachsene, um sich auszutauschen. Der Chat soll Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre eigenen Gefühle zu reflektieren – über ein Medium, das ihnen vertraut ist. Das Besondere: Die Chatbegleiter sind anders als bei anderen Projekten keine „Profis“, wie etwa Hospizmitarbeiter oder Psychologen. Sie sind selbst Jugendliche und junge Erwachsene – aktuell 13 Frauen zwischen 18 und 30 Jahren – und sie haben alle ihre eigene Trauererfahrung. Sie wissen, wie es ist, wenn ein geliebter Mensch stirbt.

„Jugendliche sind oft sehr kritisch, wenn man ihnen helfen will, und fragen oft, wie viele bei einem selbst schon gestorben seien, dass man all das wirklich wisse“, erklärt Romy Kohler vom Hospizverein Bedburg-Bergheim, die das Projekt ins Leben gerufen hat. „Endlich waren da Menschen, die nachempfinden konnten, was ich fühle und was in meinem Kopf vorgeht“, sagt auch Lorenz rückblickend. Für sie war der Chat ein Ort, wo sie endlich wieder sie selbst sein konnte. „Ich musste nicht mehr so tun als hätte ich mein Leben im Griff.“ Zu wissen, sie sei mit dem, was sie erlebt hat, nicht allein, habe ihr in dieser schweren Zeit am meisten geholfen.

Sich in einer ambulanten Trauergruppe zu öffnen, wäre für Lorenz undenkbar gewesen. „In der Anonymität des Chats habe ich mich viel sicherer und wohler gefühlt – weniger verletzlich.“ Auch hier geht es ihr wie vielen anderen Jugendlichen, bestätigt auch Kohler: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche ungern in Trauergruppen kommen und mit uns reden.“ Zudem sei es gerade im ländlichen Raum oft gar nicht möglich, genug betroffene Jugendliche für eine Gesprächsgruppe zu finden.

Diese Erfahrung musste Romy Kohler dann auch aus nächster Nähe machen: Ihr Sohn starb mit 15 Jahren von einem Tag auf den anderen. Seine Freunde seien damals oft sehr verloren gewesen, redeten viel miteinander, trafen sich am Grab oder in seinem Zimmer, sagt die heute 60-Jährige. Jugendlichen seien in solch einer Situation in einem großen Zwiespalt: „Sie sind gerade dabei, sich abzunabeln, werden aber emotional so zurückgeworfen“, beschreibt Kohler, „dass sie eigentlich doch gerne einfach an Mamas Brust heulen würden, was sie aber auch genau nicht wollen.“

So kam sie auf die Idee, einen Chatroom zu gründen, wo junge Hinterbliebene sich mit Gleichaltrigen unterhalten können und Tipps zur Trauerbewältigung bekommen. Seit dem Start des Projekts im Jahr 2009 ist er jeden Montag von 20 bis 22 Uhr geöffnet. Wer sich registriert, kann sich dort Gedanken, Sorgen und Gefühle wie Schuld, Wut oder Verzweiflung von der Seele reden – quasi eine moderne Variante der klassischen Hospizarbeit. Meist seien es um die acht User, unterstützt durch vier geschulte Chatbegleiterinnen. Insgesamt hätten sich seit Beginn fast 400 verschiedene User zwischen zwölf und 30 Jahren am Chat beteiligt.

Das Konzept von doch-etwas-bleibt.de gilt derzeit bundesweit als einzigartig. Zwar gibt es auch andere Trauerchats, jedoch richten sich diese entweder nicht explizit an junge Menschen oder sie werden von Profis betrieben, so wie klartext! vom Kinder- und Jugendhospiz Balthasar in Olpe. Wer nicht unbedingt den unmittelbaren Austausch braucht, für den finden sich mit etwas Suchen aber noch andere Online-Peer-to-Peer-Angebote (s. Kasten). Diese sind meist emailbasiert, so wie da-sein.de von der Stiftung Hospizdienst Oldenburg oder die erst diesen Sommer gestartete Online-Trauerbegleitung die- muschel-ev.de in Bad Segeberg.

Susanne Kowalski, Koordinatorin bei die-muschel-ev.de, erklärt, man habe sich ganz bewusst gegen einen Chat entschieden. „Es gibt keine konkrete Zeit für Trauer“, so die Sozialpädagogin. Chaträume könnten aber nur zeitlich begrenzt geöffnet werden, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Für mehr fehle eigentlich überall Geld und Personal, denn jeder finanziere sich über Spenden und werbe um jeden freiwilligen Unterstützer. Eine Beratung via Mail biete aus ihrer Sicht den Vorteil, dass Texte zu jeder Tages- und Nachtzeit verfasst werden könnten. „Aber klar, dafür bekommt man nur etwa zweimal pro Woche eine Antwort.“

„Kein Gefälle in der Kommunikation“

Dass auch bei die-muschel-ev.de geschulte, betroffene Jugendliche die Beratung übernehmen, ist eine ganz bewusste Entscheidung. „So entsteht kein Gefälle in der Kommunikation“, erklärt Kowalski. „Außerdem finden Jugendliche wegen der vergleichbaren Lebensrealität oft bessere Worte als wir Erwachsenen.“ Und am Ende helfe die Begleitung sogar beiden Seiten.

Das kann auch Rebecca Lorenz bestätigen. Auch sie wechselte, als es ihr langsam besser ging, die Seite – ist nun selber Chatbegleiterin bei doch-etwas-bleibt.de und unterstützt Jugendliche in der wohl schwersten Zeit ihres Lebens. „Ich wollte dem Tod meines Freundes einen Sinn geben“, erklärt Lorenz. Für sie sei die ehrenamtliche Arbeit als Trauerbegleiterin zwar durchaus herausfordernd, aber: „Für mich ist es bereichernd zu sehen, wenn andere durch meine Unterstützung und meine Erfahrung ihren eigenen Weg finden, mit ihrem Verlust umzugehen.“