Berlin.

Millionen Menschen in Deutschland leben und arbeiten an viel befahrenen Straßen. Die Silbersteinstraße in Berlin ist so eine, die Stresemannstraße in Hamburg oder die Gladbecker Straße in Essen. Täglich schieben sich dort die Autos, Lkw und Roller durch und hinterlassen Spuren in Luft und Lunge. Feinstaub, Stickoxide, auch Ozon finden den Weg in die Atemwege. Die Folgen sind laut einer Statistik der Europäischen Umweltagentur EEA Zehntausende vorzeitige Todesfälle in Deutschland allein 2017. Das darf nicht sein, sagen Lugenexperten und stellen den Deutschen Lungentag am heutigen Sonnabend unter das Motto „Dicke Luft – Gefahr für die Lunge“.

Mehr Tote als durch Aids, Malaria und Tuberkulose

Zwar ist noch immer das Rauchen mit großem Abstand die Hauptursache für chronische Erkrankungen der Lunge, doch es gebe zahlreiche Hinweise für die schädigende Wirkung durch die Luftbelastung etwa mit Feinstaub und Stickoxiden, sagt Professor Christian Witt von der Berliner Charité. „Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren enorme Bemühungen unternommen, herauszufinden, welche Auswirkungen die Umweltbedingungen auf die Gesundheit haben“, sagt Witt.

So konnten US-Forscher nachweisen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Aufwachsen in stark verschmutzter Luft und der Entstehung von chronischen Erkrankungen. Die Kinder hatten ein gestörtes Lungenwachstum, Asthma trat vermehrt auf, auch Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Nur das Prinzip Ursache-Wirkung funktioniert hier nicht. „Die Entwicklung von Erkrankungen ist multifaktoriell“, sagt Professor Christian Taube von der Ruhrlandklinik in Essen. Neben den Umweltbedingungen spielten auch Lebensstil oder Veranlagung bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle. „Da lassen sich einzelne Komponenten wie Schadstoffbelastung schwer herausarbeiten“, sagt Taube.

Dennoch kam im Oktober 2017 eine große Studie im Fachblatt „Lancet“ zu dem Ergebnis, dass weltweit neun Millionen Menschen vorzeitig sterben, weil sie verschmutzter Luft ausgesetzt waren. Das sind dreimal so viele Tote wie durch Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen. „Von diesen Daten gehen wir alle derzeit aus“, sagt Witt. Die weitaus meisten Betroffenen leben in Entwicklungs- und Schwellenländern.

In Deutschland hat die Luftverschmutzung laut dem Umweltbundesamt in den vergangenen 25 Jahren abgenommen. „Trotzdem ist die Debatte der letzten Monate sehr wichtig, weil wir die bestmögliche Luft atmen sollten“, sagt Taube. Zudem sei zwar die Luft im Vergleich zum Industriezeitalter besser geworden, sagt Witt. „Aber da gibt es noch viel Potenzial, wenn die urbanen Emissionen gesenkt werden.“

Die Autoren der „Lancet“-Studie haben auch für die sogenannten High-income-Länder, also Länder mit einem hohen Lebensstandard wie Deutschland, Wichtiges herausgefunden: So bringen sie 16 Prozent der COPD-Fälle mit Luftverschmutzung in Verbindung. Die chronische obstruktive Lungenerkrankung, auch bekannt als Raucherlunge, betrifft in Deutschland nach Schätzungen bis zu zwölf Prozent der über 40-Jährigen. Sie haben Atemnot und Husten, mit Fortschreiten der Krankheit kann der gesamte Körper leiden. Ursache für COPD ist meist eine Kombination von Rauchen und Veranlagung – aber auch das dauerhafte Einatmen verdreckter Luft. Denn die Lunge ist ein sogenanntes Portalorgan mit direktem Kontakt zu Außenwelt und Außenluft.

Die „Lancet“-Studie hat außerdem ergeben, dass acht Prozent der Lungenkrebsfälle in den Industrienationen mit Luftverschmutzung in Verbindung gebracht werden. „Hier geht es besonders um Feinstaub“, sagt Christian Witt. Diese Partikel (s. Kasten) können, je kleiner sie sind, umso tiefer in die Lunge eindringen, und werden dort aufgenommen. Das löst entweder Immunreaktionen aus oder die Teilchen werden in andere Körperteile transportiert. „Es gibt die Theorie, dass sie auch die Blut-Luft-Schranke überwinden und sich in Organen wie Hirn und Herz ablagern“, sagt der Pneumologe. Auch ein Zusammenhang mit der Entstehung von Demenz wird diskutiert.

Und wie so häufig beim Thema Gesundheit sind auch von verschmutzter Luft besonders arme Menschen betroffen. In Entwicklungs- und Schwellenländern ohnehin, aber auch in Deutschland. Es sind Menschen, die an stark befahrenen Straßen wohnen, weil sie sich nichts anderes leisten können, die durch ein Leben in schadstoffbelasteter Luft eher krank werden – und dann noch einmal zusätzlich belastet sind. „Kranke werden in schmutziger Luft kränker“, sagt Witt. „Treffen die Schadstoffe auf eine bereits geschädigte Schleimhaut wie bei Asthma oder COPD, wirkt das wie ein Krankheitsbeschleuniger“, sagt Witt. Die Entzündung werde angefeuert. Das bedeute in der Konsequenz mehr Medikamente, häufigere Arbeitsunfähigkeit, mehr Krankenhausaufenthalte und auch Todesfälle.

„Langfristig müsste man ihnen sagen: Zieht weg!“

Nur – was kann man Menschen raten, die in ihrem Lebensumfeld nun einmal schlechter Luft ausgesetzt sind? „Langfristig müsste man ihnen raten: Zieht weg“, sagt Taube. Auch weil die gesundheitlichen Risiken nach Meinung von Lungenfachärzten durch den Klimawandel noch verstärkt werden. Denn die Konzentration von Schadstoffen sei bei Dürreperioden und Hitzewellen erhöht. „Doch ein Umzug geht an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei“, sagt Taube. „Und prinzipiell ist es auch Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass die Bevölkerung saubere Luft atmen kann.“

Das sagt auch Christian Witt, der jeden Morgen mit dem Elektroauto zur Arbeit fährt – durch die Karl-Marx-Allee, vorbei am Alexanderplatz und all den Menschen, die ihre Wohnung direkt an den Straßen haben. „Jeder sollte das Recht auf gute Luft haben“, sagt Witt. Deswegen sei der Ausbau von Elektromobilität so wichtig.

Im Privaten raten die Experten Betroffenen, zu Tageszeiten mit viel Verkehr die körperliche Belastung niedrig zu halten und den Hausarzt auf die Wohn- oder Arbeitssituation hinzuweisen. „Und: Fahren Sie raus ins Umland“, sagt Witt. Die Effekte einer zerstörten Lunge lassen sich zwar nicht rückgängig machen, trotzdem sei jeder Tag in guter Luft wichtig.