Kiel/Duisburg.

Die Vorgabe der Forscher an die Studienteilnehmer war eindeutig: Sie sollten ihre früheste Erinnerung abrufen – und ganz sicher sein, dies auch wirklich erlebt zu haben. Als Antwort berichteten manche Menschen aus ihrer Schulzeit, andere beschrieben ein Spielzeug oder nannten die Geburt eines Geschwisters. Bei etlichen Teilnehmern reichte die Erinnerung besonders weit zurück: Sie gaben an, dass sie in der Wiege lagen oder wie sie ihre ersten Schritte machten.

Die Analyse der 6641 Berichte verblüffte das Team um die Psychologin Shazia Akhtar von der City University London. Denn 2487 Teilnehmer – fast 40 Prozent – nannten eine Begebenheit aus den ersten beiden Lebensjahren, 893 davon sogar aus dem ersten Jahr, wie die Forscher im Fachblatt „Psychological Science“ berichten.

Vorher ist das Gehirn dafür noch nicht ausgebildet

Das Problem: Experten gehen davon aus, dass sich Erinnerungen erst etwa ab dem Alter von 3,5 Jahren abrufen lassen. Der Grund ist simpel: Vorher ist das Gehirn – vor allem der für das Langzeitgedächtnis wichtige Hippocampus – noch nicht dafür ausgebildet, Erinnerungen dauerhaft abzuspeichern. Psychologen sprechen von infantiler Amnesie.

Die Forscher erklären die „fiktiven Erinnerungen“ vieler Probanden damit, dass sich Fragmente tatsächlicher – späterer – Erinnerungen etwa mit Fotos oder Geschichten, die in der Familie zirkulierten, verknüpft hätten. „Man internalisiert, was man vielleicht von den Eltern gehört hat“, erläutert der Psychologe Hans Joachim Markowitsch von der Universität Bielefeld, der nicht an der Arbeit beteiligt war. „Später kann man dann oft nicht mehr auseinanderhalten, was nacherzählt ist und was authentisch.“

Dass Menschen sich an Dinge erinnern können, die sie nie erlebt haben, ist nicht neu. Überraschend ist jedoch, wie gängig das offenbar ist. Noch erstaunlicher ist, dass man Menschen solche falschen Erinnerungen regelrecht einpflanzen kann.

Wie leicht diese Manipulation ist, beschreibt die deutsch-kanadische Psychologin Julia Shaw, die in London forscht. „Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin“, bekennt sie in ihrem Buch „Das trügerische Gedächtnis“. „Ich bringe Menschen dazu, Dinge zu glauben, die nie geschehen sind.“ In einer Studie in Kanada überzeugte sie Teilnehmer davon, sie hätten in ihrer Jugend eine Straftat wie etwa einen Diebstahl oder einen tätlichen Angriff begangen und seien mit der Polizei in Konflikt geraten.

Um die „Erinnerung“ einzupflanzen, konfrontierte sie die Teilnehmer zunächst mit einem Bericht ihrer Eltern von dem angeblichen Vorfall und bat sie dann, das Ereignis zu visualisieren. Nach drei Sitzungen hatte sie 70 Prozent der Teilnehmer überzeugt. Viele schmückten die Episode mit Details aus.

Doch wie prägen sich Ereignisse überhaupt ein? „Der Gedächtnisprozess ist relativ kompliziert“, sagt Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg. „Die einströmenden Reize durchlaufen verschiedene Verarbeitungsebenen im Gehirn – von der Wahrnehmung bis zur rationalen Bewertung. Aus einströmenden Reizen werden Erinnerungsepisoden, die man irgendwann autobiografisch abspeichert auf der Zeitlinie des Lebens.“

Doch die gespeicherten Informationen bleiben im Gedächtnis nicht konserviert, sondern sie werden weiter verändert – etwa Lücken ausgefüllt. Bei jedem Abrufen kann das Ereignis mit neuen Details versehen werden. Insgesamt, so zeigen Studien, speichern wir besonders viele Erinnerungen zwischen dem Alter von 15 und 25 Jahren ab. „In diese Phase fallen die größten Umbrüche im Leben – die Jugend, die Partnerschaft, Studium oder Berufs­anfang“, sagt Markowitsch. Ältere Menschen scheinen anfälliger für fiktive Erinnerungen zu werden.

Vor Gericht können falsche Erinnerungen über Schuld und Unschuld entscheiden. Welche Dynamik das Suggerieren von Erinnerungen entfalten kann, zeigte der Montessori-Prozess in Münster. Darin wurde Anfang der 1990er-Jahre ein Kindergarten-Erzieher beschuldigt, mehr als 60 Kinder in Hunderten Fällen missbraucht zu haben. Zunächst hatte ein Junge eine zweideutige Andeutung gemacht, daraufhin wurden die übrigen Kinder durch Suggestivfragen wochenlang geradezu gedrängt, sich an Missbrauchshandlungen zu erinnern – und erzählten tatsächlich immer neue Ungeheuerlichkeiten.

Freigesprochen wurde der Angeklagte erst nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft. Dazu trug nicht zuletzt ein Gutachten bei, in dem der Rechtspsychologe Günter Köhnken von der Universität Kiel feststellte, unter welch fragwürdigen Umständen die belastenden Aussagen zustande gekommen waren.

Deborah Felicitas Hellmann zeigte vor einigen Jahren an der Universität Osnabrück in einer Studie, dass sogar ein unterstelltes Tatmotiv die Erinnerung von Augenzeugen verzerren kann. Darin sahen 208 Teilnehmer zunächst eine tonlose Filmsequenz, in der eine Frau vier Männer tötet. Ein Teil der Probanden bekam die Information, die Frau habe die Morde kaltblütig aus Hass begangen, die anderen dachten, sie habe aus Notwehr gehandelt.

Je nach Vorinformation erinnerten die Teilnehmer unterschiedliche – und oft erfundene – Details, wie die Forscher im Fachblatt „Psychology, Crime and Law“ schrieben. Gingen sie von einer Tat aus Verzweiflung aus, nannten sie entlastende Umstände – etwa die Frau sei mit einem Messer angegriffen worden. „Erinnerungen sind soziale Konstrukte“, sagt Hellmann. „Auch Vorurteile, etwa gegen Flüchtlinge, können eine Rolle für das Einfärben von Erinnerungen spielen.“

Inzwischen möchte Hellmann an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Duisburg unter anderem dafür sorgen, dass die Bewertung von Aussagen zuverlässiger wird. Die Psychologin bildet Studenten für den Polizeidienst aus – dabei geht es auch um den Umgang mit Zeugen.