Maastricht/Berlin.

Nicky Verstappen war elf Jahre alt, als er aus einem niederländischen Sommercamp verschwand und kurz darauf tot aufgefunden wurde – er war sexuell missbraucht worden. Nun, 20 Jahre später, sitzt der mutmaßliche Täter im Gefängnis. Eine Spezialeinheit der spanischen Polizei schlug am Sonntag in einem Dorf bei Barcelona zu, wo ein niederländischer Tourist den 55-jährigen Mann erkannt hatte. Die Spuren deuten darauf hin, dass es sich bei dem Mann tatsächlich um den lange gesuchten Kindermörder handelt.

Der Fahndungserfolg hatte sich in den letzten Tagen angekündigt. Seit der Tat im niederländisch-deutschen Grenzgebiet bei Aachen im August 1998 tappte die Polizei im Dunkeln. Als sich niederländische Behörden in diesem Frühjahr aber erneut des Falles annahmen und zum größten Massen-Gentest in der Kriminalgeschichte des Landes aufriefen, kam doch noch Bewegung in die Ermittlungen. Der 55-Jährige, den Wegbegleiter als Einzelgänger beschreiben, meldete sich nicht, weshalb die Behörden nach ihm suchten. Offenbar war er untergetaucht. Zuletzt war er in den französischen Vogesen gesehen worden. Nachdem die Ermittler in seinem Haus DNA-Spuren gefunden hatten, die genau zu denen an der Leiche passten, wurde eine Fahndung ausgelöst. Die spektakuläre Festnahme ist kein Einzelfall: Immer wieder haben Ermittler in letzter Zeit lange zurückliegende Kriminalfälle aufgeklärt. Im Mai wurde ein 55-Jähriger in Aschaffenburg zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 1988 eine Discobesucherin vergewaltigt und mit einem Schraubenzieher schwer verletzt hatte. Im Dezember 2017 klärten Ermittler einen Raubmord auf, der sich 30 Jahre zuvor in Lohmar bei Köln ereignet hatte.

Tausende Kapitalverbrechen sind in Deutschland ungeklärt – allein die Berliner Polizei verzeichnet 269 nicht gelöste Mordfälle. Die Kriminalpolizei spricht von „Cold Cases“ kalten Fällen. Die Aufklärungsquote bei Mord beträgt gut 95 Prozent, sagt der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Bundesweit kämen pro Jahr demnach zehn bis 20 Mörder unerkannt davon. Für Angehörige sind die Folgen gravierend. „Sie können die Tat nicht verarbeiten“, sagt Roswitha Müller-Piepenkötter, Bundesvorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring.

Dass vermehrt Altfälle aufgeklärt werden, liegt daran, dass die Polizei sie systematischer angeht. Das sagt Andreas Müller, Chef-Profiler im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, das seit Jahresbeginn ungelöste Tötungsdelikte der letzten 40 Jahre in eine neue Datenbank einpflegt. „In der Vergangenheit hat man eine Papierakte bekommen: ,Hier, ungeklärter Fall. Schau mal drauf‘“, berichtet Müller. „Und wenn eine Altakte aufgeklappt wurde, kam dann oft der aktuelle Mordfall, das Tagesgeschäft, dazwischen.“

Die Spezialeinheiten nutzen moderne Kriminaltechnik wie 3D-Tatortrekonstruktionen. Im Fall Nicky hatte die Polizei erst zehn Jahre nach der Tat anhand von Spuren an der Leiche mit modernen Technologien ein DNA-Profil des Täters erstellen können.

Bewährungsstrafe fürMord an Rentnerin

Kommt die Polizei einem Täter nach Jahrzehnten auf die Schliche, hat das juristisch mitunter grotesk anmutende Folgen. Oft wird gegen die inzwischen ergrauten Männer Jugendstrafrecht angewandt. Wie bei einem über 50-jährigen Familienvater, der 2017 in Flensburg zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, weil er 1982 eine Rentnerin getötet hatte – er war damals erst 17. So leicht wird der mutmaßliche Kindermörder – eine Verurteilung vorausgesetzt – nicht davonkommen. Er war zur Tatzeit Mitte 30. Bereits unmittelbar nach dem Verbrechen war er von Polizisten unweit des Tatorts angehalten und befragt worden, wurde aber jahrelang als „zufällig vorbeigekommener Passant“ eingestuft. Offenbar eine Fehleinschätzung.

Die Angehörigen sind erleichtert über seine Festnahme. Nickys Mutter sagte dem niederländischen Fernsehen: „Wir hoffen, dass es jetzt rasch Antworten auf alle Fragen gibt, die wir noch haben.“