Berlin.

Seit sie 14 ist, hat Sarah Liebig regelmäßig Kopfschmerzen. Manchmal so stark, dass jedem Schritt ein Erdbeben in ihrem Kopf folgt, dass sie weder Licht noch Lärm erträgt. Damals sagten die Ärzte: Weniger Stress, dann wird das schon. Heute weiß sie, dass es nicht einfach wird. Die 26-Jährige hat Migräne, so wie ihre Mutter, so wie 18 Millionen Deutsche. Es ist eine Krankheit, die in Deutschland jedes Jahr nach Berechnungen der Schmerzklinik Kiel 143 Millionen Fehltage produziert, die lange als Wehwehchen abgetan wurde und deren Ursache Forscher bis heute nicht genau kennen.

„Die App ist nicht das Medikament“

Was man aber weiß: Das Verhalten der Betroffenen kann bei der Vorbeugung der Attacken und bei der Kontrolle der Krankheit helfen. Mit smartphonegestützten Therapien soll das künftig noch besser funktionieren. Seit einigen Jahren bereits gibt es Apps auf dem Markt, mit mehr oder weniger medizinischer Kompetenz dahinter. Am Dienstag nun hat die Schmerzklinik Kiel gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse (TK) erste Studienergebnisse zu ihrer Migräne-App vorgelegt, die seit 2016 auf dem Markt ist.

Das eindrücklichste Ergebnis der Online-Befragung von 1464 Nutzern: Durch den Einsatz der App gingen die Kopfschmerztage bei den Betroffenen im Schnitt um drei Tage im Monat zurück, von 13,3 auf 10 Tage. Sie benutzten außerdem weniger Medikamente zur Vorbeugung, und auch im Moment einer Attacke kamen weniger häufig Schmerzmittel zum Einsatz.

Doch wie kann eine technische Anwendung, die vereinfacht gesagt eine Art digitales Schmerztagebuch ist, eine neurologische Erkrankung lindern? „Die App ist nicht das Medikament“, sagt Professor Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel. Aber sie gebe den Betroffenen die Möglichkeit, sich selbst im Zusammenhang mit der Krankheit besser kennenzulernen.

Konkret sieht das so aus: Die Nutzer führen einen Schmerzkalender. Sie wählen den Tag aus, an dem sie Kopfschmerzen haben, den Kopfschmerztyp, die Intensität und Dauer. Und sie beantworten Fragen. Etwa: Verschlimmern körperliche Aktivitäten die Kopfschmerzen? Oder: Hat der Kopfschmerz Ihre geplanten Aktivitäten behindert?

Außerdem können Nutzer ihre Akutmedikation festhalten. Welches Medikament haben sie genommen, wie gut hat es geholfen. Dieses Wissen können die Nutzer auch mit dem Arzt teilen. Laut der TK-Studie haben das 70 Prozent getan, bei 58 Prozent wurden die Daten für die Behandlung genutzt – etwa um die Medikation zu verändern oder das Verhalten des Patienten anzupassen.

Bei der Migräne-Therapie spielt das Verhalten der Patienten eine entscheidende Rolle. „Die nicht-medikamentöse Behandlung ist die Basis“, sagt Professorin Dagny Holle-Lee, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums an der Uniklinik Essen, die nicht an der Studie beteiligt war. „Dazu gehören Ausdauersport, Entspannungstechniken wie Yoga oder autogenes Training und ein regelmäßiger Tagesablauf.“ Medikamente würden gegeben, um den Gereiztheitszustand des Hirns zu vermindern. „Aber heilbar ist Migräne heute nicht. Davon sind wir noch ganz weit entfernt“, sagt Holle-Lee. „Wir versuchen derzeit nur, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.“

Von Migräne sprechen Ärzte, wenn Betroffene einen beeinträchtigenden Kopfschmerz haben, der länger als vier Stunden und bis zu drei Tage dauert. Hinzu können Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit kommen. Migräne ist eine Art Entzündung im Gehirn, ohne dass jedoch Erreger wie Viren oder Bakterien im Spiel sind. Die Diagnose wird meist nach einem Gespräch und nach Ausschluss anderer neurologischer Erkrankungen getroffen.

Warum der eine Mensch unter Mi­gräne leidet und der andere nicht, das wissen Forscher nicht genau. Es gibt Hinweise, so kann etwa eine genetische Prädisposition eine Rolle spielen, „die Menschen haben ein Migräne-Gehirn geerbt“, sagt Holle-Lee. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Schmerzen durch eine Netzwerkstörung entstehen. „Das Zusammenspiel der Nerven im Hirn funktioniert dann nicht mehr richtig“, sagt Holle-Lee.

Das Bewusstsein für die Krankheit habe sich verändert, sagt Hartmut Göbel. In der Gesellschaft, aber auch bei Ärzten. „Viele Menschen dachten lange, Migräne sei etwas Banales. Aber sie ist bei den unter 50-Jährigen weltweit die Hauptursache für eine Behinderung“, sagt der Neurologe. So sei laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Risiko für einen Herzinfarkt bei Betroffenen verdoppelt, für eine Depression verachtfacht.

Die App soll auch zur Aufklärung beitragen. So gibt es etwa ein Tool, das eine sogenannte Aura simuliert. Diese Wahrnehmungsstörung tritt bei bis zu 20 Prozent der Attacken auf. „Wer eine solche Aura nie zuvor erlebt hat, wird furchtbar erschrecken“, sagt Göbel, „und etwa vermuten, dass ein Schlaganfall oder ein Tumor die Symptome auslöst.“ So gebe es in Stroke Units, auf Schlaganfälle spezialisierte Abteilungen, 20 Prozent sogenannter falsch positiver Diagnosen, die eigentlich mit einer Migräne zu erklären wären.

Auch Sarah Liebig hat durch die Nutzung der App dazugelernt. Ihre Tage haben sich verändert, sie sind nun strukturierter. „So wie früher mal schnell beim Lernen nebenbei frühstücken, das mache ich nicht mehr“, erzählt die Medizinstudentin. Außerdem praktiziert sie regelmäßig progressive Muskelentspannung, von der Hartmut Göbel sagt, sie sei in Verbindung mit anderen Verhaltensmaßnahmen bei Mi­gräne vorbeugend wirksamer als Medikamente. Auf der App sind entsprechende Übungen installiert.

Die Tage, an denen die Migräne den Alltag von Sarah Liebig bestimmen, haben sich inzwischen halbiert. „Ich bin außerdem als Patientin nicht mehr passiv und lasse mich nicht einfach nur vom Arzt behandeln“, sagt die 26-Jährige, „ich gestalte meine Therapie mit.“ Und auch Ärzte würden davon profitieren, sagt Göbel. „Sie sind auf Augenhöhe mit den Patienten.“

Selbstbeobachtung sollte nicht überhandnehmen

Auch Dagny Holle-Lee sieht den Vorteil der App darin, dass die Patienten nicht Opfer der Erkrankung sind. Aufpassen müsse man jedoch, dass die Dokumentation nicht überhandnehme. „Migräne-Patienten neigen ohnehin sehr zur Selbstbeobachtung. Man sollte darauf achten, dass sie sich nicht nur selbst beobachten.“ Das könne am Ende kon­traproduktiv sein, wenn die Menschen dadurch unter Stress geraten. Ihre Patienten führen ihr Schmerztagebuch größtenteils noch mit Stift und Papier.